Süddeutsche Zeitung

Kunst:Abgetrennte Zöpfe

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Die Künstlerinnenvereinigung Gedok beschäftigt sich in einer Ausstellung anhand der Gretchen-Figur mit Fragen der Emanzipation

Von Julia Bergmann, Fürstenfeldbruck

Glänzend und dicht, ordentlich zu einem Zopf geflochten, liegt es da, kupferrotes Haar auf gelben Grund. Als hätte seine Trägerin mit aller Macht versucht, die sinnliche Wirkung der langen, schimmernden Mähne durch das adrette Geflecht zu verbergen. Allein, die Trägerin ist auf dem Plakat der Jahresausstellung der Künstlerinnenvereinigung Gedok nicht zu sehen. Der alte Zopf liegt abgeschnitten da. Die Trägerin, so scheint es, ist endlich befreit vom Korsett der Erwartungen, die an eine anständige, an eine moralisch integre Frau noch immer gestellt werden.

Das Titelbild der Ausstellung "Nicht länger Gretchen! Mit allen Sinnen", die derzeit im Haus 10 zu sehen ist, offenbart eine eindeutige Bildsprache, deren Botschaft sich mal mehr, mal weniger offensichtlich in den 27 Exponaten der eben so vielen Künstlerinnen wiederfindet. Entstanden ist die Idee zur diesjährigen Ausstellung in Anlehnung an das derzeit laufende Faust-Festival in München. Durchaus kontrovers hatte die Gedok-Gruppe "Bildende Kunst" laut Sprecherin und Fachbeirätin Margret Kube im Vorfeld darüber diskutiert, ob Faust überhaupt noch zeitgemäß ist. Darüber entstand schnell ein ganz eigener Zugang zum Thema und vor allem eine neue Perspektive auf die Protagonistin. "Das Gretchen ist in Goethes Faust und auch später in der Kunstgeschichte immer schlecht weggekommen. Sie wurde entweder verkitscht oder als Dummchen dargestellt", sagen Kube und Fachbeirätin Sabine Schlunk. Mit der jurierten Jahresausstellung, in der sich ein kleiner Raum auch den Arbeiten der Jurymitglieder widmet, wollen sie ein neues Bild von Gretchen zeichnen: Das der selbstbewussten, befreiten Frau, nicht länger brav, nicht länger Opfer ihres Schicksals.

Besonders symbolträchtig, wenn auch naheliegend, ist dabei ebenjenes Bild des abgeschnittenen Zopfes, welches auch das Ausstellungsplakat schmückt. Als Symbol für das Ablegen tradierter Rollenklischees, für das Erwachen und Erwachsenwerden der Frau findet sich das Motiv gleich in mehreren Exponaten im Haus 10 wieder. Ganz deutlich etwa bei Elis Hoymann. Ihr eigenes abgeschnittenes Haar hat sie über Jahrzehnte aufbewahrt und schließlich für die Ausstellung der größten Künstlerinnenvereinigung im deutschsprachigen Raum fotografisch in Szene gesetzt.

In abgewandelter Form zeigt sich die geflochtene Form auch in der außergewöhnlichen Arbeit von Sieglinde Bottesch. "Artemis" sieht aus, wie ein überdimensioniertes gips- und wachsgewordenes Zwiebel- oder Knoblauchgeflecht. Statt der Früchte aber sitzen entlang des Zopfes weibliche Brüste, Sinnbild für Mütterlichkeit und Weiblichkeit und zugleich Lustobjekt.

"Nicht länger Gretchen", hält für den Besucher viele solcher überraschenden Exponate bereit. Sei es, weil sie durch ihre filigrane und detailverliebte Machart faszinieren, wie die hauptsächlich aus Blütensamen und Transparentpapier bestehende Skulptur "Space Shuttle der Kosmischen Katze" von Alexandra Hendrikoff. Oder aber durch die schmerzhafte Bildsprache der Videoinstallation "Befreiungsschlag" von Patricia Lincke. Es zeigt eine Frau, die ihren stacheldraht-durchwobenen Zopf verwendet, um sich selbst zu geißeln. Jeder Schlag symbolisiert die Befreiung von der vermeintlich weiblichen Opferrolle.

Die ausgestellten Arbeiten erzählen teils sehr persönliche Geschichten, verarbeiten Erlebtes, Schmerzhaftes aber auch Schönes. Dahinter stehen Themen, mit denen sich früher oder später wohl jeder Frau irgendwie auseinandersetzen muss. Am Ende bleibt, so lässt es Kubes Arbeit erahnen, die Gretchenfrage, wie sie sich heute für viele Frauen stellt: "Wie hältst du es mit der Emanzipation? Hast du dich schon selbst befreit?"

Ausstellung "Nicht länger Gretchen. Mit allen Sinnen". Zu sehen bis zum 8. Juli. Geöffnet freitags von 16 bis 18 Uhr, samstags und sonntags von 10 bis 18 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 25.06.2018
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