Süddeutsche Zeitung

Gröbenzell:Tausende Welten

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Zum Gröbenzeller Bücherflohmarkt kommen fast 5000 Besucher. Darunter auch Schwester Lidwina Keller, die ihrer alten Heimat verbunden bleibt

Von Julia Bergmann, Gröbenzell

Schwester Lidwina Keller sitzt in der Leseecke auf der Bühne der Freizeitzentrum Gröbenzell und lässt ihren Blick kurz über die 150 Biertische und die darauf ausgestellten 80 000 Bücher im Freizeitzentrum schweifen. Sie ist froh, an diesem Sonntag hier zu sein, das kann man spüren. Es ist schon fast 15 Jahre her, dass ihr Orden, die Schwestern der heiligen Elisabeth, seine Niederlassung in Gröbenzell schließen musste. Nach mehr als 38 Jahren als Leiterin der katholischen Kindertagesstätte und des Horts musste sie gehen. Doch jedes Jahr gibt es für die Schwester, die mittlerweile in der Nähe von Frankfurt lebt, zwei feste Termine, zu denen sie in ihre geliebte alte Wirkstätte zurückkehrt. Der Weihnachtsmarkt und der Gröbenzeller Bücherflohmarkt - der größte in ganz Bayern.

"Ich war von Anfang an in die Eine-Welt-Gruppe Gröbenzell integriert. Schon als es mit dem Bücherflohmarkt vor 25 Jahren ganz klein anfing", sagt die 82-Jährige. Ganz klein - das heißt auf ein paar Tischen im engen Keller des evangelischen Gemeindezentrums. Nach mehreren Zwischenstationen hat der weit über die Landkreisgrenzen hinaus bekannte Gröbenzeller Bücherflohmarkt, der vom Verein "Gröbenzell hilft" organisiert wird, sein neues Zuhause im Freizeitzentrum gefunden. 40 Tonnen Bücher und bis zu 5000 Besucher an einem Wochenende - der kleine Keller im Gemeindehaus reicht schon lange nicht mehr aus.

Kurz nach der Eröffnung um 10 Uhr am Sonntag tummeln sich schon Hunderte Besucher zwischen den Unmengen an Büchern. In den einzelnen Kisten reihen sich ganze Welten aneinander. In einer der Boxen lernen sich Hermann Hesses Narziß und Goldmund in der Klosterschule kennen, während nicht weit entfernt Karl May seine Protagonisten in nervenaufreibende Abenteuer schickt. Ein paar Tische weiter ruhen Goethes Erzählungen goldgeprägt zwischen leinengebundenen Buchdeckeln, während gegenüber Albert Camus' Tagebücher auf einen neuen Leser warten. Es reihen sich Romane und Biografien an Fachliteratur und Bildbände, während weiter hinten Hunderte Reiseführer das Fernweh der Besucher wecken.

Irgendwo dazwischen steht Peter Haslbeck, der seit Jahren leidenschaftlich gerne den Gröbenzeller Flohmarkt besucht. "So eine Auswahl habe ich sonst nirgendwo gesehen", sagt er. Nicht nur das - in Gröbenzell hat er auch schon ganz besondere Schätze entdeckt. Vor einigen Jahren etwa einen seltenen Reprodruck einer Bibel, deren original aus dem 16. Jahrhundert stammt. Lediglich 999 Nachdrucke seien seinerzeit angefertigt worden. Dementsprechend wertvoll war das Buch. Weil er mittlerweile weiß, dass er in der Freizeithalle immer fündig wird, ist er am Sonntag mit zwei kleinen Rollkoffern angereist. Um 10.30 Uhr, beide Koffer bereits einmal gefüllt und ihr Inhalt im Kofferraum seines Autos verstaut, beginnt Haslbeck seine zweite Runde durch die Halle mit den in 200 Kategorien sortierten Büchern.

Im Raritäten-Eck des Flohmarkt wartet auf die Besucher ein mindestens ebenso außergewöhnlicher Fund wie Haslbecks Bibel. Es ist eine vollständige Kriegschronik von 1914 bis 1918 der Münchner Neuesten Nachrichten, dem Vorgänger der Süddeutschen Zeitung. Ihr Wert liegt laut Zentralverband antiquarischer Bücher bei etwa 300 Euro. "Es ist wirklich bemerkenswert", sagt Vernon Uhlenbeck, einer der 120 Ehrenamtlichen, die beim Gröbenzeller Bücherflohmarkt mitarbeiten. Anhand der Ausgaben lasse sich genau nachvollziehen, wie die anfängliche Kriegseuphorie um 1916 stark abflaut. Während Uhlenbeck die Chronik einem Interessenten präsentiert, stöbert in der großen Halle die 11 Jahre alte Clara nach Harry-Potter-Büchern. Den Flohmarkt findet sie richtig "cool!" Stolz präsentiert sie ihre Beute. Ein Stück weiter hinten stöbert Barbara Specht mit ihrer Tochter durch die Kunstbände. "Als Kunsthistorikerin interessieren mich die alten Kunstdrucke", sagt sie. Während sie mit deren Hilfe wieder anfangen will, zu zeichnen, spricht ihre Tochter von guten Tattoo-Vorlagen.

Die Erlöse der Bücher, Schallplatten, CDs und DVDs werden an wohltätige Einrichtungen gespendet. Darunter auch die Eine-Welt-Gruppe, zu der Schwester Lidwina Keller gehörte. Für sie, neben einer generellen Freude an Büchern, einer der wichtigsten Gründe, den Flohmarkt noch immer zu unterstützen. Bald wird sie nach Berlin versetzt. Kommen will sie trotzdem, so lange es ihre Gesundheit erlaubt. Ihrer alten Heimat fühlt sie sich noch immer verbunden.

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Quelle:
SZ vom 11.03.2019
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