Süddeutsche Zeitung

Günter Grass:Im Schlaraffenland

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Als Kriegsgefangenen verschlägt es den späteren Nobelpreisträger Günter Grass in die Küche einer US-Einheit im Fliegerhorst Fürstenfeldbruck. In seiner Autobiografie schildert er die Umstände.

Von Gerhard Eisenkolb, Fürstenfeldbruck

Als einen Ort, wie man sie sonst nur in Märchen findet, beschreibt der am Montag verstorbene Schriftsteller Günter Grass Fürstenfeldbruck in seiner 2006 erschienen Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel". Obwohl der spätere Literaturnobelpreisträger nicht freiwillig, sondern als amerikanischer Kriegsgefangener von Bad Aibling hierher verlegt worden war, setzt er seine Brucker Zeit sogar mit einem Aufenthalt im "Schlaraffenland" gleich. Das ist durchaus so gemeint wie im Märchen und hat mit der Aufgabe zu tun, die hier dem ehemaligen Angehörigen der SS-Panzerdivision "Frundsberg" zugewiesen wurde. In Fürstenfeldbruck war die US-Luftwaffe stationiert. Für eine dieser Einheiten war Grass in einer Kompanieküche fürs Kartoffelschälen, Möhrenputzen und für den Abwasch zuständig. Zudem qualifizierte ihn sein Schulenglisch dazu, etwas zu dolmetschen.

Dem damals ausgehungerten ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS, der zuvor schon mal in Erdlöchern unter einer Plane hauste und sich auch von Brennesselspinat und Pilzen ernährte, musste die Küche der GIs wie ein kulinarisches Paradies erscheinen. Wie Grass berichtet, staunten die Kriegsgefangenen ebenso wie eine Gruppe von Displaced Persons, die verschiedene Konzentrationslager überlebt hatten, "welche Menge Essensreste, Berge Kartoffelbrei, Fett aus ausgelassenem Speck und Hühnergerippe, denen nur Brust und Keulen fehlten, Tag für Tag in Mülltonnen gekippt wurden". Eine solche Vergeudung regte den jungen Kriegsgefangen auch zum Nachdenken an, zumal es verboten war, etwas davon ins Lager mitzunehmen.

Auf jeden Fall fielen den Prisoners of War und den bei einer Wasch- und Bügelkolonne untergekommenen Displaced Persons am Arbeitsplatz genug Essensreste zu. Das war nach der Erinnerung von Grass jedoch die einzige Gemeinsamkeit, die die ehemaligen Soldaten mit den KZ-Überlebenden verband. Der Schriftsteller erinnert sich, dass er trotz der schlaraffenlandähnlichen Zustände als Angehöriger der Kriegsverlierer den Amerikanern gegenüber "verstockt" blieb. Und die Küchenhelfer stritten wohl auch immer wieder mit den gleichaltrigen Juden, die die Gefangenen als "Nazis" beschimpften. Weil es sich hinterm Lagerzaun besser lebte als in der Freiheit, habe so mancher der Soldaten sogar die Entlassung gefürchtet.

Noch eine Erfahrung machte Grass in der Zeit im Fliegerhorst. Sein amerikanischer Education Officer arrangierte für die "Jungnazis" zur Umerziehung einen Kurzbesuch im ehemaligen Konzentrationslager Dachau. Grass berichtet von den Problemen seiner Gruppe zu glauben, dass Deutsche so etwas getan hätten. "Es verging Zeit, bis ich in Schüben begriff und mir zögerlich eingestand, dass ich unwissend oder, genauer, nicht wissen wollend Anteil an einem Verbrechen hatte, das mit den Jahren nicht kleiner wurde, das nicht verjährte, an dem ich noch immer kranke", schreibt er 60 Jahre nach dem Krieg.

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Quelle:
SZ vom 15.04.2015
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