Süddeutsche Zeitung

Studentinnen aus der Ukraine:"Mir geht es schrecklich, ich fühle mich machtlos"

Lesezeit: 6 min

Marina Khanova und Olha Halytsia erleben in Freising den Krieg über Anrufe und Berichte mit. Sie erzählen, wie es ist, die Heimat zu verlieren, ohne dort zu sein.

Von Kristina Remmert, Freising

"Ich kann nur immer wieder betonen: Ich bin nicht dort. Ich kriege einiges mit, aber ich bin nicht dort. Ich bin nicht so hilflos wie meine Freunde dort, leide nicht so sehr. Aber mir geht es trotzdem schrecklich, ich fühle mich machtlos."

Olha Halytsia ist 25 Jahre alt und Doktorandin an der TU München in Freising. Geboren und aufgewachsen ist sie in der Ukraine, seit Sommer 2020 ist sie hier. Sie wollte in Freising ihren Doktortitel erlangen, dann in ihre Heimat zurückkehren. So, wie sie die verlassen hat, gibt es diese Heimat aber nicht mehr. "Ich plane zwar noch zurückzukehren, aber ich muss jetzt erstmal abwarten, welche Art von Leben dort dann noch möglich ist", sagt sie.

Die 33-jährige Marina Khanova macht seit Oktober 2020 in Freising ihren Master in Sustainable Resource Management. Geboren ist sie in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, die seit Beginn der russischen Angriffe hart umkämpft ist. "Ich bin mir sicher: Wir werden die Ukraine wieder aufbauen, und ich werde definitiv hingehen und helfen", sagt sie mit fester Stimme.

Solidarität und Machtlosigkeit

"Als ich heute Morgen gelesen habe, dass in Charkiw Bomben fallen, habe ich einfach nur geweint", erzählt Marina Khanova weiter. "Ich habe dann Videos davon gesehen, wie sie das Regierungsgebäude am Freiheitsplatz in Charkiw zerstören." Ihre Stimme bricht: "Es war dort immer so schön - was jetzt passiert, ist nicht zu glauben."

Olha Halytsia ist im ständigen Kontakt mit ihren Freunden in Kiew. Sie weiß, dass es dort sehr gefährlich ist, ihre Bekannten senden ihr pro Tag mehrere Hundert Nachrichten. Fast alle zwei Stunden erhält sie Eilmeldungen zu Bombenwarnungen für Kiew. Ihre Freunde müssen sich dann in Sicherheit bringen, gehen in die Bunker oder an die U-Bahn-Stationen. "Innerhalb der ersten drei Tage habe ich gar nicht geschlafen, um meine Freunde in Kiew zu unterstützen. Seit manche von ihnen in den Westen der Ukraine geflüchtet sind, schlafe ich ein bisschen. Aber nicht viel", sagt die Doktorandin. Keiner ihrer Freunde plane, die Ukraine zu verlassen. Viele würden es sogar für Verrat halten, ihr Land in einer solchen Situation alleine zu lassen.

"Man fühlt sich schuldig, weil man hier ist, weil man sicher ist, und trotzdem so mitgerissen. Für die Menschen dort muss das ja alles noch viel schlimmer sein", sagt Marina Khanova. Auch sie spricht oft mit ihren Freunden in der Ukraine. Am Morgen habe sie mit einer Freundin telefoniert, die mit ihrem Mann und dem kleinen Kind versuche, aus Kiew herauszukommen, es aber bislang nicht geschafft hat. "Es ist einfach nicht fair", meint die Studentin, "ich habe Verwandte in Kiew, die sich mit ihrer drei Monate alten Tochter in einer Schule versteckt haben. Seit zwei Tagen habe ich nichts mehr von ihnen gehört."

Olha Halytsia sorgt sich auch um ihre Freunde, die in die Westukraine geflüchtet sind. Eine Familie darunter habe ein zwei Monate altes Kind. Weil sie nichts als ein paar Rucksäcke konnten, hätten sie jetzt nicht einmal genug Kleidung. Auch in den Supermärkten im Westen des Landes sei vieles ausverkauft. Sie erzählt: "Ich habe mit meiner Freundin telefoniert, sie hat zu mir gesagt: 'Wenn meine Tochter mich in der Zukunft einmal fragt, was ihre erste Reise war, werde ich ihr erklären müssen, dass das eine 15-stündige Fahrt von Kiew in die Westukraine war, mit der wir unsere Leben vor dem Krieg gerettet haben."

Auch Marina Khanovas Freunde, die kleine Kinder haben, sind zum Teil vorübergehend in der Westukraine untergekommen. Dort sei es etwas ruhiger, allerdings könne man trotzdem Explosionen hören. Auch dort, nahe der polnischen Grenze, suche man dann in Bunkern oder Kellern Schutz. Die 33-Jährige erzählt auch von einer Freundin, die in einem Telegram-Chat mit anderen neuen Müttern abspreche, wie sie ihre Milch teilen könnten. "Wegen des ganzen Stresses und weil sie manchmal kein Essen haben, haben die Frauen keine Muttermilch", erklärt Marina. Viele könnten auch nicht ihr Haus verlassen, um Babynahrung zu besorgen. Marina weint, und man hört die Verzweiflung in ihrer Stimme: " Das ist alles unbegreiflich für mich. Wir leben in einer Welt, in der Frauen in einem Land in der Mitte Europas ihre Muttermilch teilen müssen. Wo sie ihr Haus nicht verlassen können. Wo ihre Heimatstädte zerstört werden. Es bricht mir das Herz zu sehen, was passiert."

Olha Halytsia geht es ähnlich. "Ich kann nicht mehr richtig arbeiten", schildert sie. Eigentlich könne sie sich nicht beschweren, sie sei hier sicher, sie habe Essen: "Ich kann aber nicht essen, weil Menschen in meinem Heimatland nicht essen können. Sie können nicht ruhig schlafen, jetzt verbringen sie ja schon die sechste Nacht in der U-Bahn-Station. In meiner Heimatstadt Kiew werden zivile Gebiete nachts vom Luftraum aus angegriffen. Ich weiß nicht, wie ich mit diesem Gedanken hier zurechtkommen soll." Ihre Familie sei zum Glück schon länger nicht mehr in Kiew. Und sie fügt hinzu: "Zu wissen, dass meine Familie sicher ist, hat mir das Leben gerettet. Wenn ich an diesem Donnerstagmorgen gewusst hätte, dass sie in Kiew ist, würde ich heute nicht mehr leben."

Marina Khanova hat drei Jahre lang an der Charkiw National School of Economics studiert. "Übrigens", sagt sie fast beiläufig, "stecken gerade in einem der Wohnheime dort die Studierenden fest. Das ist einfach schrecklich. Studierende sollen ihr Leben genießen. Erst mussten sie die Corona-Pandemie erleben, und jetzt das."

Informationskrieg und die Macht der Wörter

Obwohl beide sehr belastet, was sie online vom Krieg zu sehen und zu hören bekommen, obwohl Bilder von einem zerstörten Kindergarten nicht das Schlimmste seien, was die Freisinger Doktorandin dabei gesehen habe, wollen die beiden sich informieren. Khalova stellt fest: "Ich schaue auf allen Kanälen in Telegram, Instagram, Facebook und auf den offiziellen Websites, was passiert. Ich schreibe meinen Freunden auf Whatsapp. Viele von ihnen rufe ich an." Außerdem würden online nicht nur schlechte Nachrichten verbreitet. Auch Bilder von Zivilisten, die eine Menschenkette bilden, um die russischen Panzer davon abzuhalten, nach Kiew zu fahren, hat die 33-Jährige schon gesehen. "Das gibt uns Hoffnung", sagt sie.

"Leider müssen die Menschen in der Ukraine von allem Bilder und Videos machen", erklärt Olha Halytsia. Man versuche, so die russische Bevölkerung aufzuklären und zu erreichen. Jahrelange Freundschaften ihrer Verwandten seien schon daran zerbrochen, dass Freunde in Russland nicht glauben, dass Putin in der Ukraine tatsächlich Krieg führt.

Zu dem Teil der russischen Bevölkerung, der das nicht glaubt, gehören auch Marinas Khanovas Großeltern, ihre Tanten und Cousins und Cousinen. "Ich habe keine Worte dafür, es schüttelt mich, wenn ich darüber nachdenke, an welche verrückten Lügen sie glauben", gibt sie zu. "Ich erzähle ihnen, was passiert, und sie hinterfragen nicht einmal, was Putin sie glauben lässt. Seine Propaganda wirkt mittlerweile so gut, dass sie nicht die geringsten Zweifel an den Lügen haben. Sie glauben so tief und fest daran, dass es keinen Sinn mehr macht, mit ihnen zu reden."

Khalova seufzt: "Es ist so schwer, all das zu begreifen, weil wir immer Nationen waren, die sich sehr nahestanden. Wir teilen Geschichte." Sie verstehe, dass es schwierig sei, in Russland seine Meinung zu äußern. Trotzdem könne man nicht nur Putin selbst verantwortlich machen. "Ihr seid gekommen und habt auf uns geschossen", sagt sie, "ich glaube nicht, dass Ukrainer und Ukrainerinnen das vergessen werden können".

Halytsia meint: "Putin ist unberechenbar. Wenn ihr jetzt nichts tut, ist es bald vielleicht zu spät. Jetzt attackieren sie zivilistische Gebiete, töten Zivilisten. Es geht nicht mehr darum, dass sie die ursprünglichen Grenzen unseres Landes verletzen, sie verletzen Menschenrechte." Es sei, auch im globalen Umfeld, wichtig, verifizierte Informationen zu teilen. Und man müsse, gerade in den Nachrichten, die Ereignisse das nennen, was sie sind. "Manche Organisationen nennen das, was gerade in der Ukraine passiert, immer noch einen Konflikt, manche bezeichnen es sogar als lokalen Konflikt. Das ist es nicht. Es ist ein umfassender Krieg."

"Wir brauchen Blut, Anästhesisten, Chirurgen. Wir brauchen Essen und Wasser."

Marina Khalova bricht es das Herz zu sehen, was in der Ukraine passiert. Sie hoffe auf Unterstützung durch die EU, sie hoffe auf Schließung des Luftraumes. Sie hoffe auf Hilfe für das ukrainische Militär, sagt sie. "Wir brauchen Blut, wir brauchen Anästhesisten, Chirurgen. Wir brauchen Essen und Wasser", ergänzt sie. Es breche ihr allerdings auch das Herz zu sehen, dass Deutschland jetzt, "wegen des verrückten Putin", so viel Geld in die Bundeswehr investiere. "Es scheint, als hätten wir aus den Fehlern der Vergangenheit nicht gelernt. Immer wieder bauen wir auf die gleichen Strategien. Und jetzt investieren wir wieder in Militär, statt die Klimakrise zu bekämpfen? Wenn wir das nicht tun, wird bald alles egal sein, wird dieser Krieg bald egal sein, weil wir dann gar nichts mehr haben werden."

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