Süddeutsche Zeitung

Auftaktveranstaltung "Seltene Erkrankungen":Sieben Jahre bis zur richtigen Diagnose

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Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leiden unter einer seltenen Krankheit. Weil das vergleichsweise wenig sind, wird auch nur wenig geforscht, es fehlt an Geld und Experten. Eine Kampagne in drei Landkreisen will darauf aufmerksam machen.

Von Pauline Held, Freising

"Sie sehen heute Abend einen Abgeordneten, der merkt, dass Bewegung in die Sache kommt." Erich Irlstorfer steht auf der Bühne des Freisinger Schafhofs, die Hände auf das Podium gestützt. Links hinter ihm sitzen vier Musikanten der Bläsergruppe Holledauer Hopfareisser, die den Abend mit bayerischer Blasmusik eröffneten. Daneben die Gessler Buam aus Moosburg, die den Ehrengast Eva Luise Köhler mit einem Begrüßungsjodler empfangen. Der Bundestagsabgeordnete hat sich bewusst für die Musikgruppen entschieden, wie er später den rund 200 Gästen erzählen wird: "Ich will ihnen meine Heimat zeigen."

Am Donnerstagabend kommen Menschen aus ganz Deutschland nach Freising, darunter der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler mit seiner Frau Eva Luise. Sie alle verfolgen ein Ziel, wie Irlstorfer zu Beginn seiner Rede betont: Einen Impuls setzen, sodass seltene Erkrankungen in der Gesellschaft verankert werden. Es ist die Auftaktveranstaltung zu der Kampagne "Seltene Erkrankungen Bayern", die der CSU-Bundestagsabgeordnete nun schon seit rund sechs Monaten plant und die im kommenden Jahr starten soll. Neben Vertretern aus der Politik sind auch Selbsthilfegruppen anwesend. "Die Öffentlichkeit muss für seltene Erkrankungen und die Schicksale von Betroffenen und Angehörigen sensibilisiert werden", betont Irlstorfer. Deshalb sollen die 60 Städte, Märkte und Gemeinden in den Landkreisen Freising, Pfaffenhofen und Neuburg-Schrobenhausen 2023 Patenschaften übernehmen und je eine seltene Erkrankung bei unterschiedlichen Veranstaltungen vorstellen.

Experten kennen inzwischen 8000 seltene Erkrankungen in Deutschland

"Experten haben inzwischen 8000 seltene Erkrankungen in Deutschland festgestellt. Mit der Kampagne können wir ihnen die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die sie benötigen, aber nicht immer erhalten", sagt Schirmherrin Eva Luise Köhler. Sie und ihr Mann gründeten im Jahr 2006 eine Stiftung für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Dabei sei der Begriff "selten" irreführend: Denn allein in Bayern sind rund 650.000 Menschen betroffen, in Deutschland rund vier Millionen und in Europa sind es 30 Millionen. Das kann etwa die Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose sein, an der in Deutschland etwa 8000 Menschen leiden. Oder Progerie, die Kinder frühzeitig altern lässt und die weltweit nur 200 Kinder betrifft.

Das Problem: zu wenig Aufmerksamkeit, zu wenig Mittel, zu wenig Forschung und zu wenige Experten: "Bis die richtige Diagnose gestellt wird, dauert es bis zu sieben Jahre. In dieser Zeit haben Patienten im Schnitt acht verschiedene Ärzte aufgesucht, jeder zweite Patient erhält eine Fehldiagnose", beklagt Köhler. Für 98 Prozent der seltenen Erkrankungen gebe es bislang keine Therapiemöglichkeit. Eva Luise Köhler fordert deshalb, die Forschung, die Aus- und Weiterbildung von medizinischen Fachkräften und die Vernetzung von Forschungsergebnissen weiter voranzutreiben.

Dass Patienten schneller eine richtige Diagnose brauchen, betont auch Julia Höfele. Die Fachärztin für Humangenetik leitet das Zentrum für seltene Erkrankungen am Klinikum rechts der Isar in München. "Wenn ein Arzt nicht mehr weiter weiß, dann muss er sich das eingestehen und den Patienten weitergeben." Ihre Kollegin am Zentrum, Claudia Regenbogen, ergänzt: "Unser Job ist es, bei den Medizinern auf die seltenen Erkrankungen aufmerksam zu machen."

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