Süddeutsche Zeitung

Freiham:Der Klang von Freiham

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Ein Musiker-Paar demonstriert beim Hörspaziergang, wie sich der neue Stadtteil mit den Ohren entdecken lässt. An manchen Orten ist die Akustik gut genug für Konzerte, auf anderen lastet der Verkehrslärm

Von Ellen Draxel, Freiham

Das erste, was auffällt: Von der nahen A 99 ist kein Laut zu hören. Es ist windstill an diesem Nachmittag in Freiham-Nord, ein warmer Sommertag Anfang Oktober. Sonst bläst oft ein frischer Westwind durchs Quartier, der das Vorbeirauschen der Fahrzeuge auf der Autobahn bis in die Straßen trägt. Ein leises, aber doch unterschwellig vorhandenes Brummen. Diesmal nicht. Dafür sind andere Laute zu vernehmen. Buntes Stimmengewirr, ein Mix aus vielen verschiedenen Sprachen. Schlagende Autotüren, vorbeifahrende Busse. Kinderlachen. Quietschende Schaukeln, kreischende Krähen, ein singender Ton, ausgelöst von einem Metallstab, der über Armierungsplatten gezogen wird. Das an Wochentagen übliche Baustellenkonzert aus Hämmern, Bohren und Sägen hingegen ist an diesem Tag so selten, dass es bewusst Lauschende fast erschreckt, wenn es doch einmal erklingt.

Der Rundgang "Denken mit den Ohren" war Teil eines Kunst-Experiments in dem Quartier, in dem noch fleißig gebaut wird.

Städte sollten "viel musikalischer, viel sinnlicher" konzipiert werden, sagt Komponist Sam Auinger.

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"Denken mit den Ohren" - unter diesem Motto führten die Komponisten katrinem und Sam Auinger am Wochenende durch Freiham-Nord. Ohren auf, Mund zu und erleben, wie sich ein Stadtteil über einen geschärften akustischen Sinn definiert, ist seit vielen Jahren fester Bestandteil der künstlerischen Arbeit des Musiker-Paars. "Wir beschäftigen uns mit dem städtischen Raum, weil wir glauben, dass sein Klang uns sozial extrem beeinflusst", sagt Sam Auinger. Der Rundgang war Teil des vom Stadtteilmanagement organisierten und in Kooperation mit Baugruppen und dem Nachbarschaftstreff durchgeführten Kunst-Experiments Freiham.

Das einzige dauerhafte Geräusch beim Hörspaziergang ist denn auch das monotone, taktgebende Stakkato von katrinems Stiefelabsätzen. Es hallt zwischen Hausgängen wider, klackt auf Asphalt, raschelt durch Laub, knirscht im Kies und verstummt nahezu auf Rasenflächen. Der Impuls der Schuhe dient als Referenz für den Raum und schärft das Gehör: Jeder Ton im städtischen Gesamtbild, ob harmonisch oder dissonant, wird auf diese Weise bewusst herausgefiltert.

So ist zu erleben, wie effektiv Gebäude als Geräuschbarrieren wirken können. Im südlichen Grünband zwischen Neuaubing und Freiham etwa gibt es dieses anhaltend laute Quietschen, das wie ein sich im Wind drehender Kran klingt. Oder wie ein schreiender Esel, weshalb katrinem und Sam Auinger es den "Freiham-Esel" nennen. Dabei ist die Ursache des changierenden Tons lediglich eine Pumpe auf einem Wasserspielplatz. So dominant und bisweilen penetrant das Geräusch auch ist - am Weg hinter der Gustl-Bayrhammer-Schule ist es verschwunden.

Beispiel zwei: eine Art Innenhof an der Hans-Dietrich-Genscher-Straße zwischen den Hallen A und B des Sportparks. Dieser Bereich schirmt die Besucher nicht nur vom Straßenlärm ab, die Akustik des umschlossenen Areals eignet sich aus Sicht der Klangprofis sogar für Konzerte. "Um das zu erleben, braucht es nicht viel mehr als die eigenen Hände", demonstrieren die beiden mit einer Klatsch-Performance.

Überhaupt seien der Sportpark und der Bildungscampus "sehr klug" gestaltet. Große Grasflächen dämpften den Lärm, weiche Bodenmatten und gewölbte Wände absorbierten Widerhall und verhinderten so "Flatterschachteln" mit viel Echo. Zugleich fänden sich immer wieder Orte, die regelrecht zum Musizieren animierten.

Beim Spaziergang haben die Künstler deshalb Holzstäbe dabei, die sie hin und wieder an Metall entlangstreifen. Die Abstandspfosten zwischen Bildungscampus und Helmut-Schmidt-Allee beispielsweise klingen wie Glocken. Und ein Zaungitter an einem Kellerabgang im Sportpark ermöglicht das Spielen einer ganzen Tonleiter - für die Komponisten das "komplexeste Instrument", das sie im Stadtteil entdecken konnten. "In Freiham werden sehr hochwertige Materialen eingebaut", sagt Sam Auinger. "Das hört man."

Weil Freiham aber auch weite Flächen hat und der Rundgang immer wieder an Straßen entlangführt, ist parallel zu hören, wie störend Autolärm ist. Insbesondere entlang der Aubinger Allee entfaltet sich der Schall, rollende Fahrzeuge seien an diesem Standort "irrsinnig lange" wahrzunehmen, konstatiert Auinger. Umso wichtiger sei "ein gescheites Verkehrskonzept".

Städte, summiert der Klangkünstler, sollten künftig "viel musikalischer, viel sinnlicher" konzipiert werden, als das bisher der Fall sei. "Wir müssen begreifen, dass das unsere Welt ist, die wir mitbestimmen - mit Klang und mit Lärm."

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SZ vom 05.10.2021
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