Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingspolitik:Hungerstreik als Wendepunkt

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Massenunterkünfte, Angst vor Abschiebung, Residenzpflicht: An der Situation von Flüchtlingen in Bayern hat sich nach dem Hungerstreik auf dem Rindermarkt nichts geändert. Und doch ist vieles anders.

Ein Kommentar von Bernd Kastner

Es habe sich nichts an ihren Lebensumständen verbessert im zurückliegenden Jahr. Das beklagen die Flüchtlinge, die am Samstag durch die Münchner Innenstadt gezogen sind, um an den Hungerstreik im Juni 2013 zu erinnern. Noch immer schränkt die Residenzpflicht ihre Freiheit ein; noch immer müssen viele über Jahre in Massenunterkünften leben; noch immer fürchten unzählige die Abschiebung in europäische Länder, die offiziell als sicher gelten, in denen aber, wie in Italien oder Ungarn, die Situation für Flüchtlinge noch weitaus schlechter ist als hierzulande. Alles beim Alten also.

Und doch ist vieles anders seit dem Hungerstreik. Der Rindermarkt ist eine Wendemarke, denn vergangenes Jahr ist ein neuer Akteur auf die politischen Bühne getreten: die Gemeinschaft der Flüchtlinge. Sie haben sich allen Restriktionen zum Trotz organisiert, stellen gemeinsame Forderungen und artikulieren diese laut und öffentlich. Sie nennen sich Non-Citizens und kämpfen für Papiere. Das ist nicht anmaßend oder der Ruf nach sofortiger Einbürgerung, das heißt lediglich: Wir wollen in Deutschland nicht nur geduldet sein, sondern sicher leben.

Mit ihrer Selbstorganisation und den Protesten haben sie sich emanzipiert von der, gewiss gut meinenden, Unterstützerszene. Ihr dürft uns gerne weiter helfen, lautet die Botschaft an die deutschen Freunde. Wir aber bestimmen den Kurs, wir gehen auch bis zum Äußersten. Gewaltfrei, aber radikal.

Diese Flüchtlinge sehen sich nicht als Almosenempfänger, sie sind politisch denkende und handelnde Menschen. Und sie tun, was sich die Politiker von Bürgern wünschen: Sie sind aktiv. Die Regierenden sollten sich darauf einstellen, dass die Proteste der Non-Citizens so schnell nicht verstummen. Es sei denn, die Politik wird den Flüchtlingen gerecht.

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Quelle:
SZ vom 23.06.2014
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