Süddeutsche Zeitung

Mitten in der Region:Liebesbeziehung zu einem Baum

Lesezeit: 1 min

In einem Park umarmt ein Mann immer die selbe Fichte. Jeden Tag, seit Monaten.

Glosse von Alexandra Leuthner

Es gibt eine T-Shirt-Druckerei, bei der man Oberbekleidung mit dem Aufdruck "Baumstreichler" bestellen kann. Es ist grün, natürlich, was auch sonst. Assoziieren doch bösartige Zeitgenossen mit dem wunderbaren Ausdruck nichts anderes als "Ökofreaks" - in einem schändlich lästerlichen Sinne. Da ist von "durchgeknallten Friedensaposteln" die Rede, die im Einklang mit der Natur nur noch barfuß laufen und sich nicht waschen würden. Bei Wikipedia übrigens findet man nur den "Baumstachler", einen entfernten Verwandten des Stachelschweins, der im Gegensatz zu jenem auf Bäume klettern kann.

Mit beidem will wahrscheinlich keiner gerne gleichgesetzt werden, und doch gibt es offenbar Menschen, die das beschriebene T-Shirt kaufen. Vielleicht tun das auch nur solche, die es mit ironischem Zwinkern verschenken wollen.

Was nun ein echter Baumstreichler ist, der braucht gar keine schnöde Uniform. Ein solcher tritt seit vielen Monaten, mindestens seit Beginn der Pandemie, in absoluter Regelmäßigkeit in einem kleinen Park in der Region auf den Plan. Ganz langsam wandert er heran, immer um die Mittagszeit. Egal ob es regnet oder stürmt, ob Schnee liegt oder, wie derzeit, ein Meer von Butterblumen die Szene erleuchtet. Manchmal hat er eine Tasche dabei, meistens trägt er dieselbe Jacke, sicherlich aber kein T-Shirt. Immer aus der selben Richtung nähert er sich einer dicken, alten Fichte, deren Stamm aus einem Gestrüpp von wildem Holunder und Ahornsprösslingen herausragt.

Er bleibt umständlich davor stehen, als würde er sich erst einmal sammeln müssen. Dann umarmt er den Baum. Bleibt so für einige Minuten. Warum er das tut, keiner weiß es. Die Vermutungen reichen von einem Hund, der just unter diesem Baum verstorben sein könnte, bis zur Erinnerung an einen lieben Menschen, mit dem er vielleicht einst genau an dieser Stelle stand. Doch es fragt ihn keiner. Die Handlung hat etwas Respekteinflößendes, man will nicht stören in diesem persönlichen und doch öffentlichen Moment. Vielleicht ist er auch einfach nur der einzig wahre Baumstreichler. Mal sehen, ob er morgen wiederkommt.

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Quelle:
SZ vom 12.05.2022
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