Süddeutsche Zeitung

Grafing:Fügungen

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Im Frühjahr 1938 sitzen Wolfgang Goetz und Adalbert Mischlewski - heute Grafinger Ehrenbürger - gemeinsam in einer Berliner Abiturklasse. Der eine überlebt den Holocaust, der andere den Zweiten Weltkrieg an der Front. 80 Jahre später sehen sie sich durch Zufall wieder

Von Thorsten Rienth, Grafing

Der Abend, an dem Wolfgang Goetz sein Leben in ein Köfferchen packt, ist der des 1. Oktober 1943. Mit seinem Vater steigt er zuerst in eine Kopenhagener Stadtbahn. Dann fahren sie mit einem Vorortzug weiter. Als sie an der verabredeten Haltestelle an der Küste aussteigen, ist es längst dunkel. "Hier, kommt mit", habe jemand gerufen, erzählt Goetz. "Da lag ein Boot, ein kleiner Fischkutter. Und wir lagen bald dort, wo normalerweise der Fisch liegt."

Etwa 7000 Juden bringt der dänische Widerstand in einer mehrtägigen Nacht- und Nebelaktion über den Öresund hinüber ins neutrale Schweden. Mit der Aktion kommt er den Nazis zuvor. Gerade noch rechtzeitig war durchgesickert, dass in eben jener Nacht die groß angelegte Deportation der dänischen Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager anlaufen sollte.

Als Wolfgang Goetz hinunter in den Bauch des Kutters steigt, schiebt Adalbert Mischlewski an der südfranzösischen Küste Dienst. "Baracken, ein Erdwall, ein Stacheldrahtzaun ringsum", erinnert er sich. Drinnen sitzt eine Luftnachrichtenkompanie von 150 Mann. Am Tag benutzen sie die Augen, bei Wolken oder in der Nacht die Ohren, im Jahr 1942 kommen die ersten Radargeräte hinzu. Mischlewski, mittlerweile in seinem vierten Kriegsjahr und zum Wehrmachtsoffizier aufgestiegen, telegrafiert Feindbeobachtungen an den nächsten Jagdverband und die Flak durch.

Bis sie 19 waren, haben Goetz und Mischlewski viel Zeit miteinander verbracht, fast ihr halbes Leben. Am Berliner Friedrichsrealgymnasium besuchen sie die gleiche Klasse. Im Frühjahr 1938 schreiben sie Abitur, hinterher trennen sich die Lebenswege. Mischlewski bekommt Post mit der Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. Der Jude Goetz flieht nach Dänemark, ins Land seiner Eltern. Sein Vater hat eine Vorladung von der Gestapo erhalten. Wolfgang Goetz trifft durch Zufall den dänischen Konsul. Der warnt ihn: "Wenn Ihr Vater wiederkommt - ziehen Sie sofort ab. Niemand wird Deutschland den Krieg erklären, nur weil Ihr Vater irgendwo verschwindet." Noch am gleichen Tag schickt die Gestapo den Vater nach Hause. Es hatte sich niemand gefunden, der ihn verhören konnte. Er solle am nächsten Morgen wiederkommen. Vater Goetz macht sich sofort auf den Weg nach Dänemark. Der Sohn folgt ihm.

In dessen heutiger Wohnung im Londoner Stadtteil Westminster scheint die Zeit konserviert. Meterhohe Wände, Stuck an den Decken. Hellbrauner Teppich unter schweren Perserteppichen. Schwarz-Weiß-Fotografien vom Felsendom in Jerusalem, der Terrakotta-Armee im Mausoleum Qin Shihuangdis.

Adalbert Mischlewski feiert an diesem Freitag seinen 100. Geburtstag. Götz ist ein paar Monate später dran. Fast 200 Jahre europäische Geschichte sitzen sich also an diesem Nachmittag gegenüber. Zwei Greise, denen die Lebensjahre Falten und Furchen ins Gesicht gekerbt haben. Denen jede Treppenstufe ein Hindernis ist. Deren Augen nachlassen, aber deren Geist hellwach ist.

Goetz fängt das Wiedersehen mit einem Witz an: Die Bundeskanzlerin stehe an der polnischen Grenze. "Name?", frage der Beamte auf Englisch. Sie: "Angela Merkel." Er: "Nationality?" Sie: "German." Er: "Occupation?" Sie: "No, just visiting." Die Pointe funktioniert nur auf Englisch. Dort kann Occupation zweierlei heißen. Beruf. Und Besatzung.

Dass das Leben die beiden überhaupt wieder zusammenbringt, liegt an einer Lehrerin des Leibnitz-Gymnasiums, wie die frühere Schule heute heißt. Für den Geschichtsunterricht in einer achten Klasse konzipiert sie ein Rechercheprojekt. Die Schüler sollen die Lebenswege ehemaliger jüdischer Schüler der Schule nachzeichnen. Irgendwie macht sie Goetz' jüngeren Bruder ausfindig. Der lässt durch Zufall den Namen Adalbert Mischlewski fallen.

Die Lehrerin tippt diesen in eine Suchmaschine. Dann klingelt bei Mischlewski in Grafing das Telefon. Ob er denn eigentlich einen Wolfgang Goetz kenne? Ein paar Monate später sitzt Mischlewski im Flugzeug. "Wer weiß schon, wie lange wir noch haben?"

Der Tag, an dem Wolfgang Goetz wieder aus dem Kutter steigt, endet in einem alten Grafenschloss, wo er mit zahlreichen anderen jüdischen Flüchtlingen ankommt. Die Schweden haben es in eine Art Erstaufnahmelager umfunktioniert, kurzerhand und notgedrungen. Ein Arbeitsvermittlungskontor schickt ihn in ein Restaurant in Borös in der Nähe von Göteborg. Er hört, dass seine Mutter und Großmutter ebenfalls in Schweden seien. Der Bruder und dessen Verlobte ebenfalls. "Wir waren verstreut, aber alle drüben."

Als Goetz am 8. Mai 1945 im Radio von der Kapitulation hört, stellt sich die große Zukunftsfrage. Sein Vater hört, dass die Engländer in Hamburg gut Deutsch sprechende Nicht-Deutsche für die alliierte Kontrollkommission in Deutschland suchen. "Wir meldeten uns, bekamen eine Einladung - und die Anstellung."

Als die Goetzens, mit festen Arbeitsplätzen gesegnet, in den Nachkriegsalltag starten, hat Mischlewski einfach nur Glück. Auf dem Gebiet des heutigen Tschechien nehmen ihn die Amerikaner gefangen. Sie ziehen einen Zaun um eine große Weide und errichten darauf das Lager. "Ans Weglaufen hat doch keiner von uns gedacht", erinnert sich Mischlewski. "Wir waren einfach nur heilfroh, dass wir bei den Amerikanern und nicht bei den Russen waren." Aber die fahren schon mit ihren Jeeps durch die Lagerstraßen. "Die zählten und schrieben auf, wie viele von uns da in den Erdlöchern saßen. Die bereiteten schon die Übernahme vor."

Doch dann kommt alles anders. Der amerikanische Lagerkommandant lässt die deutschen Gefangenen antreten. "Sie können entlassen werden", ruft er. "Aber nur diejenigen, die aus der amerikanischen Besatzungszone stammen." Als Mischlewski an der Reihe ist, buchstabiert er die Memminger Adresse eines Kriegskameraden.

Der Bluff geht auf. Noch im Mai 1945 hält Mischlewski amerikanische Entlassungspapiere in der Hand. Die Amerikaner organisieren sogar Trucks, die die Entlassenen im Uhrzeigersinn durch Bayern fahren. Mischlewski steigt in Ulm aus. "Irgendjemand hat mich dann in einem leeren Milchtransporter mit nach Memmingen genommen." Tatsächlich nehmen die Eltern des Kriegskameraden Mischlewski auf. Sie vermitteln ihn sogar als Arbeiter an eine Gärtnerei. Für Zehntausende andere beginnt da gerade die Fahrt in sowjetische Kriegsgefangenenlager. Es dauert Jahre, bis die ersten zurückkommen.

Zurück kommen auch Goetz und sein Vater. Die britischen Besatzungstruppen suchen in Hamburg deutschsprachige Mitarbeiter für die Postzensur. "Wir meldeten uns, bekamen eine Einladung zum Vorstellungsgespräch - und hatten die Jobs", erzählt Wolfgang Goetz. Natürlich sei er erst einmal glücklich gewesen. Wer hatte schon so bald nach dem Krieg wieder Arbeit?

Doch nach und nach wird das ganze Ausmaß des Holocaust bekannt - und im öffentlichen Diskurs schnell eine Trennlinie gezogen zwischen Nazis und Deutschen. "Die Nazis waren doch keine Aliens, die aus dem Weltall kamen. Das waren die deutschen Nachbarn, Freunde, Postleute, Bankbeamten, Zahnärzte, Straßenbahnschaffner. Ich war fertig mit Deutschland."

Es ist die Zeit, in der er von einem britischen Historiker liest, der Zeitzeugen des Kriegsendes sucht. "Der wird nicht allzu viele Leute aus Schweden haben und mich bestimmt in England unterbringen können", blitzt Goetz der Gedanke durch den Kopf. Tatsächlich wird der Historiker sein Ticket nach England. Dort lebt Goetz sein Leben in London, als Ehemann, als Schreibwarengroßhändler.

Mischlewski bleibt in Süddeutschland, am Anfang notgedrungen. Den Heimweg nach Ost-Berlin tritt er als ehemaliger Wehrmachtsoffizier besser nicht an. Er studiert an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Englisch, Französisch, Geschichte und Theologie. Letztere unter anderem in Rom am Campo Santo im Vatikan. Sein berufliches Leben erfüllt ihn zunächst als Priester im Allgäu, später als Lehrer am Grafinger Gymnasium.

Dem Thema seiner Promotion, dem Spitalorden der Antoniter, bleibt er sein Leben lang treu. In den 1990er Jahren entsteht daraus die Initiative zur deutsch-französischen Städtepartnerschaft zwischen Grafing und dem unweit von St. Antoine gelegenen St. Marcellin. Dafür, und für seinen unermüdlichen Einsatz für die Ökumene, wird ihm im Jahr 2005 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Und schließlich ernennt ihn die Stadt Grafing zum Ehrenbürger.

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SZ vom 22.11.2019
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