Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Tatort Region, Folge 20:45 Schüsse in der Inspektion

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Weil er wegen Wahnvorstellungen seine Waffen abgeben sollte, drehte 1988 ein Mann durch: Er erschoss drei Polizeibeamte in der Dorfener Wache und verletzte einen vierten schwer

Von Thomas Daller, Dorfen

Ein psychisch kranker Täter hat am 4. März 1988 in der kleinen Stadt Dorfen im Landkreis Erding drei Polizeibeamte in deren Inspektion erschossen und einen vierten schwer verletzt. Der Amokläufer wurde bei einem Feuergefecht mit der Polizei vor dem Inspektionsgebäude von Schüssen aus einer Maschinenpistole am Kopf getroffen. Er erlag nach sechs Tagen im Koma seinen Verletzungen. Die Polizistentötungen von Dorfen erschütterten damals ganz Deutschland.

Der 37-jährige Maschinenbauer Slobodan Stefanovic hatte 15 Jahre in Dorfen gelebt, ohne aufzufallen. Weil er in seinem Heimatort Ludwigshafen Mitglied im Sportschützenverein Schützengesellschaft SG Ludwigshafen 1851 war, hatte er Waffen und eine Waffenbesitzkarte. Offenbar litt der 37-jährige Jugoslawe seit längerer Zeit an Wahnvorstellungen. Bei seinem Antrag für die Ausstellung eines Waffenscheins zum Führen von Waffen am 20. Oktober 1987 machte er im Landratsamt Erding einen so auffälligen Eindruck, dass ihm aufgetragen wurde, sein Anliegen ausführlich zu begründen. Am 30. Dezember führte Stefanovic in einem elfseitigen Schreiben unter anderem an, er fühle sich von Boxweltmeister Cassius Clay und von der Roten Armee Fraktion bedroht. Am 10. Februar 1988 wurde Stefanovic im Gesundheitsamt Erding ärztlich untersucht. Danach teilt der Amtsarzt dem Landratsamt mit, der Waffenscheinbewerber sei nicht einmal zum Waffenbesitz geeignet. Stefanovic erfuhr am 1. März vom Landratsamt, dass ihm die Waffenbesitzkarte aberkannt wurde. Aufgrund des Untersuchungsergebnisses und auf richterlichen Beschluss ordnet das Landratsamt an, die Waffenbesitzkarte und die Waffen des 37-Jährigen einzuziehen.

Am Morgen des 4. März, einem Freitag, stellten die beiden Beamten Karl Heinz Loibl und Robert Gebler bei einer Hausdurchsuchung in Stefanovic' Wohnung am Unteren Markt sieben Waffen und mehr als 2000 Schuss Munition sicher. Widerstandslos ließ sich Stevanovic die Waffen abnehmen; keinerlei Anzeichen deuteten auf die Wahnsinnstat hin, die folgen sollte. Stefanovic fuhr mit seinem eigenen Wagen den Beamten in die damalige Polizeiinspektion nach, die am Adalbert-Stifter-Ring in einem Mehrfamilienhaus untergebracht war. Die Beamten sollen ihn aber noch einmal weggeschickt haben, um fehlende Unterlagen herbeizuschaffen.

Gegen 10 Uhr waren Loibl und Gebler gerade dabei, die auf den Schreibtischen ausgebreiteten Waffen zu registrieren. Da betrat Stefanovic erneut die Wache. "Gebt mir meine Waffen zurück!", rief er. Dann griff er sich seinen Colt Peacemaker und einen Revolver 44 Magnum und begann zu schießen. Loibl starb an einem Kopfdurchschuss, Gebler wurde von drei Schüssen tödlich verwundet. Außerdem verwundete Stefanovic Polizeihauptmeister Franz Klarl mit Schüssen in die Hüfte, den linken Arm und in die linke Hand. Polizeihauptmann Helmut Holzer gelang durch einen Sprung aus dem Fenster die Flucht.

Die Schüsse hatten auch Günther Schaubschläger aus dem Schlaf gerissen, der auf Wunsch des stellvertretenden Dienststellenleiters Maier an diesem Tag den Dienst mit ihm getauscht hatte. Noch im Schlafanzug ging Schaubschläger von seiner Wohnung, die über der Polizeiinspektion lag, die Treppen hinab, um nachzuschauen, was los war. Als er durch die geöffnete Tür in die Wache blickte, sah er einen blutenden Kollegen am Boden liegen. Im gleichen Augenblick flogen ihm Kugeln um die Ohren. Schaubschläger rannte die Treppen hinauf in seine Wohnung und alarmierte die Kollegen in Erding.

Dem stellvertretenden Inspektionsleiter Alfred Maier gelang es gerade noch, am Funkgerät einen Notruf abzusetzen. Als der unbewaffnete Maier am Täter vorbei in den Hof und zu den Nachbarn flüchten wollte, schoss ihm Stefanovic in den Rücken. "Holt das Rote Kreuz", keuchte er noch, bevor er in den Armen einer Nachbarin an den Folgen eines Leberdurchschusses starb. Spätere Rekonstruktionen ergaben, dass Stefanovic 45 Schüsse in der Polizeiinspektion abgegeben hat.

Stefanovic hatte gerade die Wache verlassen, als ein Streifenwagen eintraf. Offenbar hatte auch der schwer verletzte Franz Klarl noch einen Notruf absetzen können, der von den Kollegen im Streifenwagen gehört wurde: "Schusswaffengebrauch in der Inspektion. Erbitten sofort Verstärkung."

Als Polizeihauptmeister Frank K. den bewaffneten Täter sah, stieß er die Tür des Streifenwagens auf, eine Maschinenpistole im Anschlag. Stefanovic schoss sofort und traf. Schwer verletzt schoss der Polizeibeamte zurück und traf Stefanovic in Kopf und Oberarm. Rettungshubschrauber brachten beide in Münchner Kliniken. Stefanovic war zu diesem Zeitpunkt bereits klinisch tot. Im Gehirn ließ sich keine Tätigkeit mehr feststellen, nur das Herz schlug noch. Er wurde künstlich beatmet und starb am 8. März im Städtischen Krankenhaus München-Bogenhausen an Herz- und Kreislaufversagen.

Alfred Maier hinterließ eine Frau und zwei Söhne im Alter von 21 und 22 Jahren, von denen einer Polizist war. Karl Heinz Loibl hinterließ eine Frau und eine 15-jährige Tochter. Robert Gebler war ledig; er war erst kurze Zeit vor der Bluttat von Erding nach Dorfen versetzt worden.

Am 9. März fand die Trauerfeier für die drei ermordeten Polizisten in der Turnhalle der Dorfener Grund- und Hauptschule statt. Für das bayerische Kabinett nahmen Innenminister August Lang sowie die Staatssekretäre Peter Gauweiler und Heinz Rosenbauer teil. Lang warnte davor, sich wut- und hasserfüllt gegen die ausländischen Mitbürger zu wenden. In Dorfen waren nach der Tat ausländische Mitbürger auf offener Straße bespuckt und als "Mörderschweine" beschimpft worden. Dorfen kam in den darauffolgenden Wochen nicht zur Ruhe: Am 5. April überfiel ein 20-Jähriger die Kreis- und Stadtsparkasse Dorfen und nahm Geiseln, die er mit einem Gasrevolver bedrohte. Er gab an, die Dorfener Polizistenmorde "rächen" zu wollen. Erst nach langen Verhandlungen ließ er sich widerstandslos festnehmen.

Vonseiten der Politik war der Dorfener Polizei nach den Morden versprochen worden, dass eine neue Dienststelle gebaut werde. Die Lage inmitten einer Siedlung in einem Mehrfamilienhaus wurde als nicht länger tragbar erachtet. Bis zum Umzug dauerte es aber noch 15 Jahre. Zum Gedenken an die ermordeten Kollegen hängen ihre Bilder auch in der neuen Inspektion an der Wand. Die Erinnerung ist immer noch gegenwärtig.

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Quelle:
SZ vom 21.08.2019
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