Süddeutsche Zeitung

SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 12:"Wir stellen uns nicht in den Weg"

Lesezeit: 2 min

Pflegerin Julia Rettenberger berichtet über bedrohliche Situationen in der Ebersberger Kreisklinik - und wie sie sich selbst schützt.

Protokoll: Johanna Feckl

Es liegt schon zwei, drei Jahre zurück, als ich einen unserer Patienten am Krawattl gepackt habe, um ihn und mich zu schützen. Damals hat sich nachts die Polizei bei uns auf der Station ankündigt. Die Beamten hatten einen Mann Mitte 30 in ihrer Obhut, der sich äußerst aggressiv verhielt. Im Vollrausch war er zuvor gestürzt - leider hat den Großteil des Aufpralls sein Kopf abbekommen. Er sollte neurologisch überwacht werden, denn die Gefahr einer Hirnblutung nach einem solchen Sturz ist enorm. Auf der Intensiv angekommen, ist unser neuer Patient schnell eingeschlafen. Die nächtliche Ruhe dauerte aber bloß eine halbe Stunde an. Dann ist der Mann mit dem Entschluss aufgewacht, nach Hause zu gehen. Jetzt, sofort.

Zu dem Zeitpunkt waren wir fünf Pflegerinnen und eine Internistin auf der Station, allesamt um die 1,60 Meter groß - unser Patient war locker zwei Köpfe größer, von kräftiger Statur, aggressiv und immer noch stark alkoholisiert. Will so jemand gehen, stellen wir uns nicht in den Weg. Die Gefahr ist zu groß, dass wir angegriffen werden. Der Selbstschutz ist wichtig in unserem Beruf und in solch einem Fall hat er oberste Priorität. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als nach einem körperlichen Angriff Verletzungen davon zu tragen und jedes Mal Angst zu bekommen, wenn ein alkoholisierter Patient zu uns kommt - in der Regel erlebe ich mindestens einen pro Woche, zu Volksfestzeiten auch mal mehr.

Stattdessen haben wir dem Mann erklärt, dass er zwar gehen kann, wir aber verpflichtet sind, die Polizei zu rufen und die ihn wieder zu uns bringen wird. Das war ihm egal. Also ging ich hinter ihm her, die eine Hand an seinem Hemdkragen, die andere auf Höhe seines Oberarms - damit konnte ich unseren taumelnden Patienten beim Treppenabsteigen zumindest ein bisschen stützen und lenken.

20 Minuten später war die Polizei mit dem Mann im Schlepptau wieder bei uns. Es gab einen Fixierungsbeschluss, also brachten wir an Beinen, Händen und Hüfte Gurte an und stellten das Bettgitter auf. Die Beamten waren keine Minute weg, da hat der Mann begonnen, wild um sich zu schlagen - ein Arm löste sich aus der Fixierung. Ein Glück, dass wir die Polizisten noch erwischt haben. Einer von ihnen zeigte unserem Patienten seine Handschellen - die würden so schnell nicht wieder aufgehen. Der Mann wurde lammfromm und ist wieder eingeschlafen. Nach einigen Untersuchungen am nächsten Tag, stand fest: Sein Sturz hatte keine weiteren Folgen, jetzt durfte er ganz offiziell nach Hause.

Angst hatte ich keine, als ich ihn die Nacht zuvor alleine hinaus begleitet habe. Aber ich hatte Respekt vor der Situation: Wir sind alle auf Hab-Acht-Stellung, wenn jemand mit solch einem Pegel zu uns kommt und aggressiv auftritt. Trotzdem bin ich mir auch bewusst: Im Fall der Fälle reagiere ich schneller - mich lähmt schließlich kein Vollrausch.

Julia Rettenberger ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 27-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte finden Sie unter sueddeutsche.de/thema/Auf_Station.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5362558
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 26.07.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.