Süddeutsche Zeitung

Mitten in Ebersberg:Wie zwischen Grafing und Ebersberg Achtsamkeit geübt wird

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Ruhe und Gelassenheit soll der moderne Mensch anstreben. Pendler zwischen Ebersberg und Grafing können das momentan sehr gut üben.

Kolumne von Anja Blum

Zum modernen Lifestyle gehört es ja zwingendermaßen, Stress entweder gleich ganz zu vermeiden oder allerwenigstens positiv zu deuten. Jeder ist bemüht, stets eine ordentliche Life-Work-Balance vorzuweisen, der Weg zum Glück scheint nur über Achtsamkeit, Gelassenheit und all die anderen schicken, selig machenden Mentalzustände zu führen.

Gerade frühmorgens ist es also ratsam, mit den noch nackten Füßen der direkten Verbindung zur Mutter Erde nachzuspüren, den Atem ungestört fließen und die Gedanken dabei in den Himmel fliegen zu lassen - oder wahlweise auch in ein schwarzes Nichts zu versenken. Jeder wie er mag.

Manchmal aber, da ist es auch ganz einfach. Da braucht man gar keinen schlauen Seelenratgeber, Yogakurs oder teuren Mentalcoach, nein, da bietet einem das Leben ganz direkt, ohne viel Umschweife und kostenlos eine Riesenchance, dem inneren Frieden ein großes Stückchen näher zu kommen: Wer in Ebersberg oder Grafing wohnt, muss dafür nur gleich morgens von der einen in die andere Stadt fahren, und zwar auf der Rosenheimer Straße, an der Kapser Allee vorbei.

Dieser Schleichweg nämlich ist momentan, der Sperrung der alternativen Münchener Straße wegen, beliebter denn je - und so ohne viel Zutun zu einer höchst effektiven Schule der Gelassenheit und Achtsamkeit geworden.

Nicht nur, dass hier größtenteils Tempo 30 herrscht, nein, die beiden Städte haben ja auch alles getan, dass die kürzeste Verbindung zwischen ihnen wirklich nur für Anlieger attraktiv ist: Beiderseits sind jede Menge Parkplätze ausgewiesen, Ebersberg hat zudem dem außerstädtischen Verkehr die Vorfahrt aberkannt und an vielen Stellen für eine künstliche Verengung der Fahrbahn gesorgt. Die beiden natürlichen Nadelöhre in Form von Unterführungen nicht zu vergessen!

Durch diesen Zick-Zack-Parcours also schieben sich nun jeden Morgen zwei Blechlawinen im kleinstmöglichen Abstand aneinander vorbei. Wer da hinterm Steuer nicht alle Sinne beisammen und trotzdem die Ruhe weg hat, der verzweifelt. Stets muss man in dieser Straße auf der Hut sein, ob der andere vor oder neben einem nun Gas gibt - oder vielleicht nicht, ob er auf sein Vorfahrtsrecht beharrt oder Größe zeigt.

Und auch man selbst muss die richtige Gangart finden zwischen höflicher Rücksichtnahme und spürbarem Vorwärtsdrang, denn andernfalls kann einen diese Straße der Achtsamkeit einiges kosten: Zeit nämlich, Nerven und möglicherweise sogar eine Fahrt zur Autowerkstatt. Und dann, ja dann ist es ganz vorbei mit der Gelassenheit. Endgültig.

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Quelle:
SZ vom 25.07.2018
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