Süddeutsche Zeitung

Einzelhandel:Die gute Seele von Anzing

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Der Gemischtwarenladen von Resi Lettenbichler ist in Anzing eine Institution. Der ganze Ort ist seine Fangemeinde. Manches bleibt dort so, wie es immer schon war.

Von Alexandra Leuthner, Anzing

Ike Godsey hätte seine helle Freude gehabt an dieser Ladentheke. Schlicht Ike genannt - von allen Fans der Serie "Die Waltons" zumal - avancierte der Gemischtwarenhändler, Poststationbetreiber und unaufhörlich sprudelnde Quell für alle Arten von Neuigkeiten aus dem imaginären Ort Waltons Mountain in den Siebzigern zum vielleicht berühmtesten Ladenbesitzer Amerikas. Auf dem Bildschirm versteht sich. Theresia Lettenbichler, schlicht Resi genannt, hätte es verdient, mindestens so berühmt zu sein wie die Serienfigur aus den Blue Ridge Mountains. Und das ganz in echt. Nicht nur, weil sie den vielleicht letzten Gemischtwarenladen seiner Art ihr Eigen nennt, sondern auch, weil sie ist, wie sie ist.

"Die gute Seele von Anzing", "unsere Resi", "Mittelpunkt des Ortes" sind die Attribute, mit denen sie beschrieben wird. "Du hast uns geprägt mit deinen Werten und deinen Sprüchen wie ,von nix kommt nix', oder ,setz di her, samma mehr'", sagt der 24-jährige Christopher Lack. Er und sein Bruder gehen im Laden ein und aus, als ob sie die eigenen Kinder wären.

Die Eltern sind vor 30 Jahren in den Anbau neben dem Geschäft gezogen, und die Lettenbichlers haben die Familie mit dem norddeutschen "st" mit hinein genommen in den großen Kreis derer, die ihnen sind. Im Burschenverein, beim Arbeiterverein, beim Maibaumfest, in der Pfarrei, Resi Lettenbichler mischt überall mit - und das seit bald 60 Jahren. "Oamoi Gschafterl, immer Gschafterl", sagt sie über sich selbst und lacht so ein bisschen in sich hinein.

Vielleicht weiß ja einer, der gerade erst hergezogen ist in die 3500-Einwohner-Gemeinde, noch nicht, wer mit "die Resi" gemeint ist, "den Lettenbichler" aber kennt er auf jeden Fall. Ein schnelles Mitbringsel? Ein vergessenes Geschenk für einen Kindergeburtstag? Für die Frau noch nichts zu Weihnachten? Dann schnell zum Lettenbichler, so heißt es in Anzing. Die Resi packt sogar umsonst ein. "Nur Geschenkpapier, dann ist es ein Mitbringsel. Mit Schleife? Dann ist es ein Geschenk", sagt sie. Auch einer von ihren Sprüchen.

"Die lassen sich was sagen von mir und kaufen vernünftige Sachen"

Zu Weihnachten, erzählt die Bürgermeisterin, selbst Mutter zweier Kinder, bestellt die Resi, was sie nicht irgendwo in den Tiefen ihres Ladens hat, verpackt es und stellt es bereit zum Abholen. Kathrin Alte, neue Rathauschefin seit Mai, ist ein echter Fan. Wen sie auf einem Rundgang durchs Dorf mitnimmt, den lotst sie auch zum Lettenbichler. Direkt neben der Schlosskapelle an der Högerstraße liegt er, mitten im Ort also, mehr im Zentrum des Geschehens geht nicht. Gegen jeden Trend, der die Menschen in anonyme Einkaufszentren auf die viel zitierte "grüne Wiese" schickt.

"Haushalts Lettenbichler Fahrräder" steht über dem unscheinbaren, ein bisschen von der Straße zurückgesetzten Eingang, in einer Schrift, die so sehr aus einer anderen Zeit ist, dass wahrscheinlich kein PC der Welt sie mehr im Programm hat. Aus einer anderen Zeit ist auch das Haus, in dem der Laden untergebracht ist. Es fand seine erste Erwähnung im Feuerstättenbuch München des Jahres 1554.

Und so richtig Oldschool ist die Eingangstür: Messingrahmen mit Sicht-Glas. Wer sie öffnet, landet in einem anderen Universum, einem längst versunken geglaubten Zeitalter allemal, in dem der "Gemischtwarenladen" noch zu den Vokabeln des täglichen Gebrauchs gehörte. Man ging zum Bäcker, zum Metzger, zum Gemüse- und eben zum Gemischtwarenladen. Klingt nach höllisch viel Aufwand, hatte aber den Charme, dass man überall ein Schwätzchen halten konnte, man kannte sich eben. Der typische Gemischtwaren - oder später Tante-Emma-Laden hatte meist auch Lebensmittel im Angebot, oder eine Schale mit Süßigkeiten für die Kinder auf der Theke. Wahrscheinlich das einzige, das es bei Lettenbichlers nicht gibt. Dafür alles andere.

Und man kann sich beraten lassen. Die Chefin weiß oft besser, welche Sorte Töpfe oder Schüsseln ihre Kunden daheim im Küchenschrank stehen haben, als die selbst es wissen. Am liebsten, sagt sie, verkaufe sie an junge Männer. "Die lassen sich was sagen von mir und kaufen vernünftige Sachen." Junge Frauen dagegen schauten oft zu sehr aufs Geld, Hauptsache billig. Dabei habe sie immer versucht, vernünftige Preise zu machen.

Früher kamen Vertreter vorbei, die wurden durch Kataloge ersetzt

Extra teuer hatten Lettenbichlers gar nicht nötig. Ehemann Eduard - dessen Großeltern noch eine Landwirtschaft hatten und 1907 dann den Laden eröffnet haben - war im Hauptberuf Mechaniker und hatte eine gute Stelle beim Münchner Flughafen. "Da war das Auskommen sicher, da hast du hier ehrlich verkaufen können." Aber nichts billiges. "Es muaß scho' was gleichschauen, wenn's was kost'."

Um die richtigen Waren für ihren Laden zu bekommen, hat "die Resi" keinen Aufwand gescheut, ist herumgefahren, zu Spielwaren- und Haushaltswarenmessen, hat mit Vertretern verhandelt - die heute meist von Katalogen ersetzt worden seien. Nur ein einziger Spielwarenvertreter, der komme immer noch gern. "Ich bin regelmäßig die letzte Kundschaft auf seiner Tour, da gibt's immer Kaffee und Kuchen."

Vormachen kann ihr keiner was. Jedes Trumm Geschirr, jeden Lego-Karton, jedes Glaskreuz in ihrem Laden kennt sie auswendig. Was aber noch erstaunlicher ist: Sie weiß genau, wo sie was findet auf der Ladenfläche von 55 Quadratmetern, wo sich Regale an allen Wänden bis unter die Decke türmen, wo praktisch jeder Zentimeter bestapelt ist mit allem, was man sich vorstellen kann. Kinderspielzeug, vom Playmobil über Starwars-Puzzle und das klassische Memory bis zum Barbie-Pegasus und dem Feuerwehrauto. Da gibt es Flaschenbürsten und Thermoskannen, Kartons mit Stiften und Glückwunschpostkarten, Eierschneider und Besen aller Arten.

Auf einem Stapel im Durchgang zum Garten wartet das "Gold des Indianers", ein Schneiderbuch, darauf, endlich gekauft und gelesen zu werden, gleich unter einem Wandschrank mit Werkstattzeugzubehör. Ein Relikt aus jener Zeit, in der die Lettenbichlers vor allem Fahrräder verkauft haben. Die haben sie längst den Spezialgeschäften überlassen, Eduard, inzwischen 79, kann seiner Frau seit zwei Jahren nicht mehr im Laden helfen. Das Schränkchen mit den Schrauben und kleinen Schubladen, darin Federn für Felgenbremsen oder "Lichtfußungen", was auch immer das sein mag, das hängt aber immer noch da.

Die Anzinger hatten einst Blumentöpfe auf dem Balkon, diese Zeiten sind vorbei

In einem Puppenhaus, ganz oben auf einem Regal mit Geschenkideen für Taufen, Firmungen oder Hochzeiten - "ein bisserl was Christliches, dafür muasst ja sonst in die Stadt fahren" - sitzen kleine Bärchen. Flechtkörbe in rund, eckig und oval, mit oder ohne Innenleben, sind hoch auf umlaufenden Brettern unter der Decke verstaut. Und wer schon lange nach einem blauen Kaffeeservice gesucht hat, findet das gleich darunter, neben Likör- und Sektgläsern unterschiedlichster Formen oder Halbekrügen.

Und Whiskygläser? Die haben wir in der Heizung", ruft die Chefin herüber. Ein schmaler Durchgang, auch er vollgestopft bis an die Decke - Staubsaugerbeutel! - führt in einen Nebenraum, der weitere 22 Quadratmeter Lagerraum bietet, ein weiterer Gang nach draußen, in den Hof, der einst den Mittelpunkt des landwirtschaftlichen Anwesens darstellte. Heute glaubt sich der Besucher unversehens im Außenlager eines Gartenmarkts wieder zu finden. Alle Arten von Töpfen, Balkonkästen finden sich hier, es gibt Laternen und Schemel und, und, und. Wobei auch die Gartenutensilien nur noch Überbleibsel sind aus einer anderen Zeit.

"Früher hat ein jeder in Anzing Blumentöpfe auf dem Balkon gehabt, das gibt's jetzt alles nicht mehr", auch Tapeten brauche niemand mehr, Dachpappen oder Hasenstallgitter, erklärt die Chefin, die zu einer hübschen Sitzgruppe aus zierlich geschwungenem Metall in der Mitte des Innenhofs bittet, der vorne vom alten Ladenhaus und einem neueren Anbau begrenzt wird, an der Seite vom lang gezogenen ehemaligen Stallgebäude.

Im Schatten einer Korkenzieherhasel und einer große Eibe hält sie Hof, lässt sich über den Stand eines Umzugs in der Nachbarschaft informieren, hat von hier aus die Schlosskapelle im Auge, wo sie nach dem Rechten sieht. Und hier erzählt sie auch, wie sie als blutjunges Mädchen aus der Oberpfalz nach Anzing gekommen ist, zum Gasthof Post. Das war in den 60er Jahren und eigentlich wollte sie gar nicht bleiben, doch es sollte anders laufen.

Beim Neuwirt arbeitete sie später und beim Kirchenwirt auch, gleich neben dem jetzigen Rathaus, bis sie ihren Mann kennenlernte. "Beim Bier, net in der Kirch", betont sie mit einem Schmunzeln - was nichts über ihre Beziehung zur Kirche aussagt. In der alten Schlosskapelle, die genau wie das Haus der Lettenbichlers ein Überbleibsel des früheren Wasserschlosses an dieser Stelle ist, gibt es eine Gebetstreppe. Sie darf nur auf Knien benutzt werden, und wehe, die Resi erwischt einen dabei, der sich daran nicht hält.

Sie hat eben ihre Prinzipien - eines vor allem: Wenn es Arbeit gibt, dann wird sie erledigt. "Soll i auf d'Seitn gehen, wenn die vor mir steht?" Sie kenne niemanden, der soviel arbeite wie "die Resi", sagt Nachbarin, Judith Lack. Weshalb die Lettenbichlerin auch noch lange nicht ans Aufhören denkt, die Sieben, die bei ihrem Alter vorne steht, hin oder her. Ein Ruhetag am Montag und, seit Corona, ein geschlossener Samstag müssen reichen. "Wenn ich irgendwann beim Frühstück sitz und sag, heut mag I net in den Laden gehen, dann hör i auf." Und dann das wird dann vermutlich das Aus sein für den ganz besonderen Gemischtwarenladen von Anzing.

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Quelle:
SZ vom 26.09.2020
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