Süddeutsche Zeitung

Mitten in Grafing-Bahnhof:Sich einmal als Sardine fühlen

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Die Frage "Was macht das mit dir?" beantwortet die Autorin meist nicht so gern. Außer, sie sitzt eingequetscht in einer Regionalbahn.

Glosse von Michaela Pelz, Grafing

Morgens, halb neun auf einem Bahnhof im Umland. Der Bahnsteig in Grafing-Bahnhof ist fast so voll wie unlängst vor der Demo in München - kein Wunder, der Regionalzug bringt die Passagiere in unter einer halben Stunde zum Hauptbahnhof. So eine Verbindung nutzen alle gern, die Bahn ist knallvoll.

Mit Mühe quetscht man sich im schmalen Gang direkt vor der Toilette auf einen der Klappsitze zwischen eine fast eingenickte junge Frau mit Maske und einen älteren Herrn im dunklen Mantel, unter dem weiße Hemdaufschläge hervorblitzen.

Diese Sitzgelegenheiten sind offenbar für sehr zierliche Menschen mit ebensolchen Gesäßen gemacht, die damit verbundene Freude ist nur so semi. Würde jetzt jemand kommen und die berühmt-berüchtigte Psychologenfrage stellen: "Was macht das mit dir?", gäbe es nur eine Antwort und die wäre nicht wirklich positiv. Das Gefühl von Sardine-in-Büchse gehört definitiv nicht zu den bevorzugten Daseinszuständen.

Wirklich beengt aber wird es, wenn der Nebensitzer einatmet und dabei die Breite seiner Schultern gefühlt verdoppelt, bevor er einen tiefen Seufzer ausstößt. Das tut er mehrfach, um gleich danach etwas auf einen in der Klappvorrichtung seines Mobiltelefons angebrachten Block zu kritzeln. Natürlich wäre es interessant zu wissen, was der Mann im feinen Zwirn da geschrieben hat, aber nie würde man anderer Leute Notizen lesen - das gehört sich ebensowenig wie das Öffnen irregeleiteter Briefe.

Allerdings lässt sich der flüchtige Blick aus dem Augenwinkel einfach nicht vermeiden - und der wiederum zeigt, dass jeweils nur ein einzelner Begriff auf dem Papier landet. Alle untereinander weg. Eine Reihe philosophischer Gedanken vielleicht? Oder die Grundlagen wichtiger wissenschaftlicher Forschungsprojekte? Möglicherweise handelt es sich sogar um die Favoriten für die nächste Beförderungsrunde? Als er die Hand leicht öffnet, blitzt dort nicht etwa ein silberner oder goldener Drehbleistift hervor, sondern ein schnöder blauer Kuli. Also ist es wahrscheinlich doch nur die Einkaufsliste für den Abstecher zum Supermarkt in der Mittagspause.

Am Ostbahnhof steigt der Herr aus, zusammen mit einem Großteil der übrigen Passagiere. Erleichterung stellt sich ein, der eigene Körper und die Gedanken werden weit. Spontan taucht dort das Pucken auf, diese ganz spezielle Baby-Wickeltechnik , eingesetzt bei motorischer Unruhe und Übererregbarkeit sowie bei Schreibabys.

Den ersten Zustand hat die Fahrt morgens um halb neun definitiv bekämpft. Beim zweiten ist man sich noch nicht ganz sicher. Ganz eindeutig geholfen hat die Enge bei der dritten Indikation des Puckens: Im Waggon war es, bis auf die üblichen Wichtig-Wichtig-Telefonierer, mucksmäuschenstill.

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