Süddeutsche Zeitung

Arbeit und Corona:Vom Traumschiff auf den gelben Wagen

Lesezeit: 4 min

Als Hotelfachfrau hat Nicole Elster van Graan die ganze Welt bereist - derzeit ist sie im Landkreis Ebersberg als Zustellerin unterwegs. So unterschiedlich diese Jobs auch sein mögen, gibt es doch eine große Gemeinsamkeit: Glückliche Gesichter

Von Michaela Pelz, Ebersberg

Weckerklingeln um 4 Uhr früh? In den Augen der meisten Menschen eine absolute Horrorvorstellung. Nicht so für Nicole Elster van Graan. "Damit habe ich absolut kein Problem; vor ein paar Jahren war ich eine ganze Sommersaison lang im Nachtdienst", erzählt die blonde Frau mit jenem Lachen, von dem später noch zu reden sein wird. Der Grund für diesen Einsatz mit umgekehrten Tag-Nacht-Vorzeichen? "Bei uns logierte eine orientalische Prinzessin, die ausschließlich von mir bedient werden wollte - vor allem beim Frühstück." Man merkt, dass die Tourismusfachfrau gern an ihre Zeit in der Fünf-Sterne-Hotellerie zurückdenkt - ebenso wie an die Tage als Reiseleiterin in der Türkei oder in Mexiko. Und, in der Tat, ein bisschen Wehmut spüre sie schon, wenn bei Facebook oder Instagram unverhofft Fotos von früheren Aufenthaltsorten im Indischen Ozean auftauchten, meint die Wahl-Pfaffingerin, deren sächsischer Geburtsort Meerane quasi schon das Gefühl von Wind und Wellen in sich trägt, die Elster van Graan so liebt.

Der Nachname stammt von ihrem südafrikanischen Mann ("kennengelernt und geheiratet auf den Seychellen"), der auch der Grund ist, dass sie nun statt im blauen, eleganten TUI-Kostüm im praktischen, gelben Post-Outfit in Ebersberg vor einem steht. Wegen eines Jobangebots in München waren der frühere Logistik-Manager und seine Frau im März 2020 nach Oberbayern gekommen. Am ersten April hätte sie eine Stelle in einem Reisebüro antreten sollen. Doch aufgrund der Pandemie verschob sich alles, versandete dann ganz. Wie gut, dass die Deutsche Post, bedingt durch den rasanten Anstieg von Sendungsmengen Verstärkung suchte. "Ich hörte davon im Radio, meldete mich, absolvierte einen Schnuppertag, wurde 14 Tage in meinen zukünftigen Bezirk eingewiesen und jetzt mache ich das seit einem halben Jahr", sprudelt es aus der lebhaften Frau mit dem Pferdeschwanz heraus. Bei jedem Satz ist zu spüren, mit wie viel Begeisterung sie nun als eine von 118 600 Zustellerinnen und Zustellern in Deutschland eine Arbeit ausführt, die bei genauer Betrachtung durchaus Berührungspunkte mit ihrer früheren Tätigkeit aufweist. Man darf vermuten, dass das auch bei anderen "Umgeschulten" der Fall ist, egal, ob es sich um ehemalige Sänger, Tontechniker, Flugbegleiterinnen, Restaurantleiterinnen, Ingenieure, Friseurmeisterinnen oder Piloten handelt - alles Branchen, aus denen die hoch geschätzten Neueinsteiger laut einer Unternehmenssprecherin stammen.

Doch zurück zu Elster van Graan: Für die Zustellung alle paar Minuten aus dem Postauto "rein- und rauszuhopsen" sei gar nicht so anders als "bei der Qualitätsprüfung nacheinander zehn Hotels zu inspizieren, immer mit einem Schwung Unterlagen im Gepäck", wie seinerzeit als Teamleiterin auf den Seychellen. Wobei sie da ein "normales" Auto fuhr, weswegen das Rangieren des großen Postvans bei jeder Witterung zunächst eine Herausforderung gewesen sei, wie sie glucksend berichtet. Auch die Zuladung der Pakete sei eine Kunst für sich. Die müsse man sich schon morgens gut überlegen, richte sich doch die Zustellung nach der Reihenfolge im Scanner. "Ich weiß noch, wie ich ganz am Anfang ewig nach einem bestimmten Paket gesucht habe. Das lag dann natürlich irgendwo in einer Ecke", sagt sie und schmunzelt. Auch die Erinnerung an die Sache mit der Stoßstange lässt Elster van Graan unwillkürlich auflachen. "Das Paket war so groß wie mein Auto. Nach dem Verstauen fragte ich mich die ganze Zeit, wie ich es wohl jemals wieder aus dem Laderaum kriegen sollte." Zum Glück war ihr der Empfänger behilflich, der bei ihrer Ankunft schon in der Tür stand. Freudestrahlend - wie praktisch alle in diesem 50-Kilometer-Radius, für den die Zustellerin zuständig ist.

"Es ist täglich ein Highlight, wenn die Kunden sich erkennbar über mein Eintreffen freuen, selbst wenn ich nur Werbung dabeihabe." Einerseits mag dies sicher damit zusammenhängen, dass die Austrägerin für viele Menschen teilweise der einzige Sozialkontakt ist. Mit Sicherheit aber ist es ihrer Persönlichkeit geschuldet: So viel Herzlichkeit strahlt dieses stets gut gelaunte Energiebündel aus, dass man sich gut vorstellen kann, wie ihr die Gäste zu ihrer Zeit als Barkeeperin das Herz ausschütteten. Auch der selbstverständliche Respekt für das jeweilige Gegenüber, ihre allgegenwärtige Hilfsbereitschaft und die Bereitschaft, sich auch mal "Zeit für einen kleinen Plausch oder Lacher" zu nehmen, haben Elster van Graan schnell die Sympathien selbst jener älteren Leute gesichert, die den jahrelang vertrauten Vorgänger vermissten, den sie aktuell vertritt. "Landgang" heißt jener Teil der Route in der Fachsprache, der die Postfrau in die Außenbezirke führt. Selbst wer nicht regelmäßig das "Traumschiff" anschaut, hat bei diesem Begriff sofort Assoziationen von buntem, lebhaften Treiben an den schönsten Orten der Welt - wie muss es da erst einer Person gehen, die einmal als "Chef de Rang" auf einem Kreuzfahrtschiff für Fine Dining zuständig war? "Klar ist es unvergesslich, wie die Taxifahrer am Hafen alle zwei Wochen darauf warteten, dass die Crew von Bord ging. Sie brachten uns ins Hinterland, wo wir die Locals treffen und Dinge sehen konnten, die Touristen normalerweise nicht zugänglich sind," schwärmt die Touristikerin und ergänzt: "Durch den tollen Zusammenhalt fühlt man sich auf so einem Schiff wie eine große Familie."

Aber auch bei der Deutschen Post hat die quirlige Enddreißigerin, die locker als Mittzwanzigerin durchgehen würde, ein "super Team" von internationalem Zuschnitt gefunden. So kann sie ihre Türkischkenntnisse wieder auffrischen, Englisch spricht sie ohnehin täglich mit dem Ehemann. Fragt man Elster van Graan, was ihr am besten gefällt bei ihrer jetzigen Arbeit, kommt wie aus der Pistole geschossen: "Der Abwechslungsreichtum und die Freiheit - sobald man losfährt, ist man sein eigener Herr!" Ja, eine gewisse körperliche Fitness brauche man schon - immerhin müssten die bis 35 Kilo schweren Pakete notfalls auch in den fünften Stock getragen werden. Aber mit diesen Anforderungen kommt sie als Hobbybergsteigerin und -golferin problemlos zurecht. Zumal sie es genießt, wie sie lachend hinzufügt, immer an der frischen Luft zu sein.

Sollte die Powerfrau langfristig eine der zahlreichen internen Aufstiegsmöglichkeiten wahrnehmen - "im Büro als Standortleitung, im Qualitätsmanagement oder am Flughafen", würde sie wahrscheinlich länger schlafen können. Das Aufstehen zu nachtschlafender Zeit bliebe dann, wenn es wieder geht, für eine frühe Abreise zu einem ihrer Sehnsuchtsziele reserviert - Backpacking in Vietnam, Thailand, Schweden oder Island.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5287961
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.05.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.