Süddeutsche Zeitung

Anzing:Stimme der Sprachlosen

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Die DDR-Freiheitskämpferin und Buchautorin Freya Klier spricht in Anzing über ihre Erfahrungen und 25 Jahre Wiedervereinigung. Zahlreiche Bürger nehmen an der leidenschaftlichen Diskussionsrunde im Rathaussaal in Anzing teil

Von Annalena Ehrlicher, Anzing

"Wir sind ein Volk! Sind wir ein Volk?" So leitet die Schriftstellerin und Mitbegründerin der früheren DDR-Friedens- und Bürgerrechtsbewegung, Freya Klier, am Montag den offenen Abend im Rathaussaal in Anzing ein. Leidenschaftlich spricht sie von Freiheit und Demokratie, von Unterdrückung und Unrechtsstaaten - und von der Verantwortung, denjenigen eine Stimme zu geben, die selbst zu lange keine hatten. Moderiert wird der Abend von Sabine Heimbach (CSU), die frühere stellvertretende Regierungssprecherin, die Klier in Berlin kennenlernte.

Der auf Einladung der Hanns-Seidel-Stiftung organisierte offene Abend ist das Ende eines langen Tages für Klier: Den Montagmorgen verbrachte sie im Franz-Marc-Gymnasium in Markt Schwaben, wo sie mit Schülern der elften Klasse über die DDR-Diktatur sprach und diese durch Rollenspiele an die Situation der vom Regime Unterdrückten anzunähern. "Gerade den jungen Menschen müssen wir beibringen, wie es ist, in einer Diktatur zu leben, und dass Freiheit und Demokratie schützenswerte Güter sind", sagt sie abends dazu.

Auf Heimbachs erste Frage, nämlich die nach den Leuten, die bis heute von der DDR mit den Worten "so schlimm war es doch gar nicht" sprechen, beantwortet sie so ausschweifend wie brüsk: "Ich fühle mich als Vertreterin einer großen Menge von Leuten, die weder damals noch heute eine Stimme haben." Sie kenne zahlreiche Menschen mit kaputten Biografien, die bis heute unter den Konsequenzen des DDR-Regimes leiden. Sie schließt mit den Worten: "Diejenigen, die heute noch von der DDR schwärmen, sind normalerweise genau die Leute, die damals ihre Karrieren vorangetrieben haben."

An dieser Stelle kommt von einer Dame aus dem Publikum - fast unter Tränen - der Einwand: "So heftig wie Sie das darstellen, ist es nicht gewesen!" Sie sei bis zum Ende in der DDR geblieben und war auch nach deren Niedergang bis 2006 in den neuen Bundesländern wohnhaft. "Nicht alles war schlecht", widerspricht sie Klier. "Ich konnte studieren, hatte mein Auskommen und wurde auch als Alleinerziehende unterstützt - ohne Mitglied der Partei zu sein", betont sie. Man müsse das Gesamtbild sehen.

Dass Klier im Rathaussaal nicht nur Zustimmung entgegenkommt, liegt wohl auch an ihrer apodiktischen Haltung: Sie ist eine leidenschaftliche Rednerin. An einer Stelle verweist sie auf Erhard Epplers (SPD) Ausspruch aus dem Jahr 1987, Europa brauche um seines Friedens willen eine selbstbewusste DDR. "Eine selbstbewusste Diktatur? Was für ein Hohn!", ruft Klier. Eingesperrt gewesen zu sein in einem "vermieften, brutalen, verlogenen" Staat, von dem die heutigen Generationen nur noch lesen können. "Doch ahnen sie damit auch die überbordenden Gefühle ihrer Eltern und Großeltern?", fragt Klier rhetorisch. "Wenn ich heute das verzweifelte Ringen der Ukraine um Freiheit und Demokratie sehe, dann denke ich: Es hätte damals auch ganz anders laufen können."

Eine weitere Wortmeldung kommt von einem Herrn. "In einem gebe ich Frau Klier recht, nämlich darin, dass die Wende wie ein Wunder über uns hereinbrach", sagt er. Er selbst habe den neuen Staat von Anfang an kritisch betrachtet, "weder ja noch nein", formuliert er es heute. Dennoch habe er im Gegensatz zu den meisten DDR-Bürgern Zeit gehabt, sich auf "das Neue" einzustellen. Wichtig ist ihm der Einfluss der Kirche: "Die Kirchengruppen waren für das Unblutige der Revolution mitverantwortlich."

Klier bestätigt das und fügt hinzu, nach dem Fall der Mauer war man "zukunftstrunken", doch: "Kein Rausch hält ewig." Die Katerstimmung setzte mit dem Existenzkampf ein, mit Arbeitslosigkeit und kompletter Neuorientierung. Die Wende war nicht nur ein historischer, sondern ein existenzieller Einschnitt. Klier verweist auf die ansteigenden Scheidungs-und Abtreibungsraten in der ehemaligen DDR nach der Wiedervereinigung - Resultat von sozialer und beruflicher Unsicherheit. Der bürokratische Wust, der auf DDR-Bürger zukam, sei kaum zu bewältigen gewesen. "Wieso aber wollte es nach all der echten Euphorie nicht klappen mit dem Zusammenwachsen?", fragt sie heute. Heimbach wirft ein: "Man hat den Ostdeutschen damals ihr Lebenskonzept genommen, indem man gesagt hat: 'Alles, was ihr gemacht habt, war falsch!'"

Eine weitere Dame aus dem Publikum, die 11 Jahre alt war, als ihre Familie flüchtete, verweist auf das gegenseitige Unverständnis in den beiden deutschen Staaten: Die "Hassreden" auf den Westen in der DDR hätten einen tiefen Eindruck hinterlassen. "Und dann das Desinteresse im Westen! Glauben Sie nicht, dass wir mal gefragt worden wären, wie es drüben wirklich aussah", sagt sie.

Das Schlusswort des Abends kommt aus dem Publikum. Eine junge Frau, die seit dem Fall der Mauer jährlich an einem Wiedervereinigungsfest in ihrer früheren Straße teilnimmt, bekommt auf ihre Frage nach der Organisation für das kommende Jahr zur Antwort: "Vielleicht brauchen wir das Fest nächstes Jahr gar nicht mehr."

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Quelle:
SZ vom 07.10.2015
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