Süddeutsche Zeitung

Dok-Fest-Tipp:Glück im Unglück

Der filmische Hybrid "Winter Journey"

Von Anna Steinbauer

Er habe immer Glück gehabt, sagt der ältere Herr, und sein Blick wandert fast schuldbewusst zu Boden. In dieser Geste liegen Wehmut und Schmerz, aber auch Anflüge eines schlechten Gewissens: Einer der glücklichen Juden gewesen zu sein, der der Diktatur der Nazis entkommen konnte, bevor es zu spät war. Der junge Musiker Günther Goldschmidt und seine Frau Rosemarie flohen auf einem der letzten Schiffe im Juni 1941 nach New York. In dem semidokumentarischen Drama "Winter Journey" sitzt Günther Goldschmidt, wunderbar verletzlich gespielt von Bruno Ganz in seiner letzten Rolle, auf seiner Terrasse inmitten der bizarren Kakteenlandschaft Arizonas und stellt sich in einem fiktiven Gespräch den bohrenden Fragen seines Sohnes Martin. Dieser schrieb das Drehbuch, das auf seiner Familiengeschichte beruht, welche dem US-amerikanischen Radiomoderator lange selbst nicht bekannt war. Mithilfe von außergewöhnlich arrangiertem Archivmaterial, inszenierten Szenen und Interviews spürt Goldsmith in diesem filmischen Hybrid der Vergangenheit seiner Eltern nach, die beide als Teil des jüdischen Kulturbundes, der von den Nazis aus Propagandazwecken geduldet war, die deutsche Musikszene prägten. Es ist eine teils märchenhaft anmutende Liebesgeschichte und Hommage an die Musik, die es möglich macht(e), die Gegenwart zu vergessen, aber auch den Schmerz der Vergangenheit heraufzubeschwören.

Winter Journey , Dänemark, Deutschland 2019, Regie: Anders Østergaard, bis 24. Mai als Stream via dokfest-muenchen.de

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Quelle:
SZ vom 15.05.2020
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