Süddeutsche Zeitung

Die Geschichte der IJB:"Die Bibliothekarinnen waren zunächst entsetzt"

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Kinder pflücken sich Bücher selbst aus den Regalen? Mit schmutzigen Fingern? Als die IJB im Jahr 1949 eröffnet wurde, war das geradezu anarchisch - und ein unerwarteter Erfolg

Von Barbara Hordych

"Nun seid ihr Besitzer einer großen Bibliothek und habt sogar ein Haus", beglückwünschte Erich Kästner seine junge Zuhörerschaft bei der feierlichen Eröffnung der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) im September 1949. Das mit den "Hausbesitzern" sei ganz wörtlich zu verstehen, erklärt Élodie Malanda, die Leiterin des Bildungsprogramms der IJB. Kinder konnten sich die Bücher selbst aussuchen und in die Hand nehmen, dabei war diese "Freihandaufstellung" keineswegs selbstverständlich zur damaligen Zeit. "Die Bibliothekarinnen waren zunächst entsetzt: Bücher hatte man sitzend zu lesen, mit gewaschenen Händen. Sie befürchteten, dass die Kinder die Bücher mit schmutzigen Fingern zerfledderten, waren sich sicher, dass sie sie falsch ins Regal zurückstellen würden", sagt Malanda.

Doch Jella Lepman, die jüdische Fabrikantentochter, Journalistin und spätere Gründerin der IJB, die im Herbst 1945 in amerikanischer Uniform als "Advisor for Women's and Youth Affairs" der amerikanischen Armee aus dem Londoner Exil in ihre Heimat nach Deutschland zurückgekehrt war, blieb hartnäckig. Die Kinder sollten selbst bestimmen können - und lagen künftig gemütlich hingestreckt auf dem Boden, "das hatte für damalige Zeiten direkt etwas Anarchistisches", so Malanda.

Eine Zuflucht habe die IJB den Kindern geboten, "auch das ist wortwörtlich zu verstehen: Es war warm und es gab Bücher, beides keine Selbstverständlichkeiten in der Nachkriegszeit." Im Gegenteil. Die materielle und geistige Armut der "Trümmerkinder" im besiegten Deutschland war groß, wie Jella Lepman sich in ihrem Buch "Die Kinderbuchbrücke" erinnert. "Sofern man nicht heimlich die alten Nazibücher hervorholte, mussten die deutschen Kinder ohne Bücher auskommen", beschreibt sie die Situation.

Im Zuge des Entnazifizierungsprogramms rief sie daraufhin das Projekt Internationale Jugendbuchausstellung ins Leben. Die Exponate erbat sie sich von Verlagen aus Nationen, mit denen sich Deutschland noch vor einigen Monaten im Kriegszustand befunden hatte. Der zuständige amerikanische General war deshalb auch sehr skeptisch, ob jemals "Geschenkpakete" geschickt würden. Tatsächlich aber trafen über 4000 Bücher von 14 ausländischen Verlagen ein. Die bildeten den Grundstock für die Internationale Jugendbuchausstellung 1946, ausgerechnet im Haus der Kunst, dem ehemaligen Propagandabau der Nationalsozialisten in München. Danach ging die Ausstellung auf Wanderschaft, aber Lepman hatte die Idee, sie fortan fest zu verankern - in einer dauerhaften Jugendbibliothek. Die fand, größtenteils finanziert mit Mitteln der Rockefeller-Stiftung, ihre erste Heimat in einem Stadtpalais an der Kaulbachstraße. Dort hielt dann Kästner nicht nur besagte Eröffnungsrede, im selben Jahr 1949 veröffentlichte er auch sein erstes Buch nach dem Zweiten Weltkrieg, "Die Konferenz der Tiere". Darin berufen die Vertreter aller Tierarten nach dem politischen Scheitern der Menschen eine Konferenz ein, um für künftige Generationen den Weltfrieden zu sichern. Die Grundidee zu dieser Geschichte stamme von Jella Lepman, schreibt Erich Kästner am Anfang seines Buchs.

"Der Text spiegelt den Geist des Hauses sehr gut wieder: Es geht um Frieden und Kommunikation", sagt Malanda. Da lag es nahe, das Buch als Inspiration für eine Theaterproduktion zur Jubiläumsfeier auszuwählen. 18 Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren entwickelten ihre eigenen Forderungen für das Stück "Die große Kinderkonferenz", das sie am Freitag, 20. September, um 15 Uhr im Jella-Lepmann-Saal aufführen.

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Quelle:
SZ vom 19.09.2019
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