Süddeutsche Zeitung

Themenrundgang in der KZ-Gedenkstätte:Auf den Spuren des Verbrechens

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Führung zum Thema "Euthanasie"

Von Renate Zauscher, Dachau

"Euthanasie", das Wort, das sich vom griechischen Begriff für einen "guten", leichten Tod ableitet, hat einen mörderischen Klang: Denn unter dem beschönigenden Decknamen wurden während der NS-Zeit Menschen ermordet, die dem vermeintlichen "Ideal" einer "Rassenreinheit" nicht entsprachen und deshalb als "unwertes Leben" eingestuft wurden. Die historische Forschung geht von etwa 200 000 Opfern während der NS-Diktatur aus: Allein 70 000 Menschen wurden in den beiden ersten Kriegsjahren gezielt in so genannte Tötungseinrichtungen gebracht.

Andrea Heller, Gedenkstättenreferentin und Mitarbeiterin im Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau, führte auf einem Rundgang über das Gelände der Gedenkstätte zu markanten Punkten des ehemaligen Konzentrationslagers. Dort erläuterte sie den Zusammenhang, den diese Stationen - der Haupteingang oder das Jourhaus - mit dem Schicksal von Menschen verbinden, die unter den Häftlingen zur "Euthanasie" bestimmt worden waren. Nicht nur Kranke und Behinderte aus sogenannten Heil- und Pflegeanstalten wurden unter dem Deckmantel der "Euthanasie" getötet, sondern auch an die 20 000 Häftlinge aus Konzentrationslagern, darunter ungefähr 2500 aus Dachau.

Spuren der Mordaktionen in der NS-Zeit, die sich unter dem Begriff der "Euthanasie" zusammenfassen lassen, "finden Sie überall", sagte Andrea Heller - ob auf einem alten Friedhof in Haar, in der Psychiatrie von Kaufbeuren oder in der Geschichte der Behinderteneinrichtung in Schönbrunn im Landkreis Dachau. Dort befindet sich ein Mahnmal zur Erinnerung an die Opfer.

Es gebe eine Fülle von teils "detaillierten und entsetzlichen" Schilderungen", sagte Heller. Die Theorien zur "Reinhaltung der Rasse" und damit zum Gedanken der "Ausmerzung" von "unwertem Leben" gehen allerdings bis ins 19. Jahrhundert zurück. Es handle sich um Thesen, die Adolf Hitler mit seiner Forderung, Hunderttausende der "Schwächsten" in der Gesellschaft zu vernichten, bereits 1929 aufgegriffen und neu formuliert habe. Zehn Jahre später, Ende 1939 nach dem Überfall auf Polen, seien bereits länger vorhandene Planungen für die systematische Tötung von sogenannten Erb- und Geisteskranken, Behinderten und "sozial oder rassisch Unerwünschten" in die Tat umgesetzt worden. Dabei sei es das Kalkül der Täter gewesen, dass das, was man vorher noch nicht gewagt hatte, angesichts des Kriegsgeschehens vermutlich nicht auffallen würde.

Initialzündung für den Mord an mindestens 5000 Kindern von 1939 an sei die Bitte eines Elternpaars um den "Gnadentod" ihres behinderten Kindes gewesen. Dessen "Erlösung" sei von Hitler genehmigt wurde. Ebenfalls 1939 begann die nach dem Berliner Sitz der "Euthanasie-Zentrale" an der Tiergartenstraße benannte Aktion T4. 70 000 Menschen wurden bis 1941 in speziellen Einrichtungen - für Bayern war es das Schloss Hartheim bei Lind - getötet.

Als Proteste die bürokratisch durchorganisierten Tötungen nicht mehr opportun erscheinen ließen, begann die zweite Phase der "wilden Euthanasie" (Heller) über Nahrungsentzug und Medikamente. Die Ermordung von Konzentrationslager-Häftlingen fand bis zum Jahr 1944 statt: Zu den "Selektionen" seien Gutachter in die Lagern gefahren. Dort hätten sie aufgrund von Unterlagen auch Augenschein ihre Entscheidungen getroffen. Hohe Sterbezahlen in manchen Einrichtungen aber legen für Andrea Heller nahe, dass selbst nach 1945 noch im Geiste der NS-Ideologie gemordet wurde. Zahlreiche in die Umsetzung des "Euthanasie-Programms" involvierte Ärzte und Juristen hätten bekanntermaßen nach dem Ende des Weltkriegs weiter Karriere gemacht.

Heller kam ausführlich auf den jüdischen Häftling Arthur Jacobs zu sprechen, der von Dachau nach Hartheim gebracht und dort ermordet wurde. Oder auf den Arzt Friedrich Mennecke, der als Gutachter Tausende von Menschen auf dem Gewissen hatte und sich gleichzeitig in seinen Briefen als liebevoller Ehemann gerierte. In der Gesellschaft ist nach Hellers Ansicht das Thema Euthanasie trotz neuer Forschungen nach wie vor nicht "angekommen". Diese Ignoranz bereitet ihr offensichtlich Sorgen: Mehrfach schlug sie den Bogen von der Vergangenheit zur heutigen Situation. In der Diskussion um Präimplantationsdiagnostik und Sterbehilfe könnten, so ihre persönlichen Überlegungen, überholt geglaubte Gedankengänge vom "unwerten Leben" vielleicht wieder an Boden gewinnen.

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SZ vom 23.01.2017
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