Süddeutsche Zeitung

Mitten im SEV:"Ich fühl' den Bus"

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Wer Samstagnacht mit dem Schienenersatzverkehr von München nach Dachau gondelt, erlebt eine Fahrt im unfreiwilligen Partybus.

Glosse von Jessica Schober, Dachau

Es ist kurz vor Mitternacht am Samstagabend und die Augen der keuchend Rennenden weiten sich vor Verzweiflung, als sie sehen, wie voll der Bus bereits ist. Dies ist die letzte Chance, um jetzt noch von München nach Dachau zu kommen und der Bus 710 bekommt schon kaum mehr die Türen zu vor Passagierfülle. Aber ein paar mehr müssen jetzt einfach noch reinpassen in den Bauch des Fahrzeugs, da hilft alles Stöhnen nichts. Die meisten Haltestellenankömmlinge sind in Moosach gestrandet, weil an Sommerwochenenden eben derzeit immer die S-Bahnen auf der Stammstrecke ausfallen und nur der leidige Schienenersatzverkehr (SEV) zurück nach Dachau fährt.

Da sind die Fahrgäste mit den staubigen Zehen in den Sandalen, die eben noch auf dem Tollwood-Gelände ihre Runden gedreht haben. Da ist die Familie mit dem schlafenden Kleinkind auf dem Arm der Mutter, der Vater erkennt in Sekundenbruchteilen, dass er nun den Kinderwagen auf Miniaturformat zusammenklappen muss, um überhaupt noch mitgenommen zu werden. Da ist der glatzköpfige Hemdträger, der die ganze Fahrt durch die dunkle Nacht über seine Sonnenbrille nicht abnehmen wird und grimmig schaut.

Es ist eine Gemeinschaft der Unterschiedlichen, die sich nun zusammenpfercht. Es ist irre heiß, jeder Körper riecht anders - vermeintlich froh mag sein, wer seit Long-Covid einen begrenzten Geruchssinn hat, aber sicher ist: So viel Nähe war selten. Ein Trainingsjacken-Typ will anfangen "Olé, Olé" zu grölen, wird aber ausgebremst. Eine junge Frau erklärt allen, die es hören wollen und allen anderen auch, dass sie ja auf Reisen schon viel vollere Busse erlebt habe und in Asien, überhaupt, also in Asien, da habe ihr der Busfahrer extra Bescheid gesagt, wenn ihre Haltestelle erreicht gewesen sei, so toll. "Unangenehm", sagt einer, der immer aus Versehen die Stopp-Taste drückt und alle in den Wahnsinn treibt.

Das unterdrückte Seufzen bricht sich Bahn, als hinten in diesem unfreiwilligen Partybus ein Damenchor die Stimme erhebt. "Griechischer Wein", wird angestimmt, alle singen mit, dann kommt der Eisbrecher schlechthin: "Gummi Bears..." Jetzt müssen sogar die lachen, die eben noch verschwitzt an eine Glasscheibe gequetscht wurden. Als der tapfere 710er Dachau erreicht und der Gummibärchen-Song-Refrain verhallt ist, sagt einer lakonisch,: "Ich fühl den Bus". Vielleicht ist SEV ja doch eine Abkürzung für etwas ganz anders: Schicksalhaft einendes Verkehrsmittel.

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