Süddeutsche Zeitung

KZ-Gedenkstätte Dachau:Erinnern statt Verdrängen

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Zum zwanzigsten Mal werden in der Klosterkirche die Gedächtnisblätter über ehemalige KZ-Häftlinge präsentiert. Die tragischen Geschichten zeigen die Willkür des NS-Regimes, sind aber auch von Bedeutung für die Gegenwart

Von Maximilian Kiessl

Die Klosterkirche des Karmel Heilig Blut an der KZ-Gedenkstätte Dachau ist komplett gefüllt mit Zuhörern aller Altersgruppen. Roland Prantl, zuständig für die musikalische Begleitung des Abends, setzt mehrfach an zu spielen, um die Veranstaltung zu eröffnen - kommt gegen das allgemeine Stimmengewirr jedoch nicht an. Erst nach einigen Versuchen ertönt seine Oboe für alle hörbar durch den Raum.

Zum mittlerweile zwanzigsten Mal werden am Freitagabend im Rahmen der öffentlichen Feierstunde "Namen statt Nummern" neue Gedächtnisblätter in der Klosterkirche präsentiert. Jedes der einzelnen Gedächtnisblätter beinhaltet die aufwendig zusammengetragene Biografie eines ehemaligen Häftlings des Konzentrationslagers Dachau. Alle Lebensläufe, erstellt von ehrenamtlichen Projektteilnehmern, werden in einem gemeinsamen Gedächtnisbuch gesammelt, um der einzelnen Schicksale zu erinnern.

"Wenn wir Deportierten ein Viertel des Hasses angenommen hätten, wären wir Mörder geworden", hat der Italiener Riccardo Goruppi einmal gesagt. Dem heute 92-Jährigen wurde eine der zehn neuen Biografien gewidmet. Goruppi war unter anderem im KZ Dachau inhaftiert, nachdem er 1944 als Mitglied einer Partisanengruppe festgenommen worden war. Eigentlich sollte der Zeitzeuge als Ehrengast bei der Präsentation anwesend sein, aus gesundheitlichen Gründen musste er den Besuch jedoch kurzfristig absagen.

"Die Zeit der Zeitzeugen geht zu Ende", stellt Klaus Schultz, Diakon der Versöhnungskirche, in seiner Begrüßungsrede fest. Darum sei es umso wichtiger, die Namen der Häftlinge wieder ins Gedächtnis zurückzubringen. Erinnern statt Verdrängen. Schultz betont außerdem, dass die Gedächtnisblätter nicht nur ein Blick in die Vergangenheit seien, sondern auch eine Warnung an die Gegenwart: "Sie sind auch Antwort und Widerspruch auf Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus." Die Leiterin des Gedächtnisbuch-Projekts, Sabine Gerhardus, kommt ebenfalls zu Wort und dankt den ehrenamtlichen Biografen und den beteiligten Angehörigen, für die "Erinnern keine leichte Aufgabe ist".

Anschließend werden nach und nach zehn Schicksale ehemaliger Häftlinge, denen je ein eigenes Gedächtnisblatt gewidmet ist, vorgestellt. Die Biografen erweisen sich dabei als ebenso vielfältig und unterschiedlich, wie die Geschichten der Häftlinge selbst. Unter den Referenten sind Schüler ebenso vertreten wie ein Lehrer des Josef-Effner-Gymnasiums, Teilnehmer des Freiwilligendienstes und Privatpersonen. Mehrere Angehörige ehemaliger Häftlinge sind ebenfalls gekommen. Zwei von ihnen, Jessica Scherer und Martina Riepl, haben sogar je einen Lebenslauf verfasst.

Jessica Scherer schrieb zusammen mit Kerstin Cser die Geschichte ihres Urgroßvaters nieder. Georg Scherer, 1906 in der Nähe von Dachau geboren, engagierte sich im Arbeiter-, Turn- und Sportverein Dachau, dem Vorgänger des heutigen ASV. Darüber hinaus war er in der SPD tätig. 1935 wurde er wegen dem Verteilen von Flugblättern verhaftet und ins KZ Dachau gebracht, wo er 1941 wieder entlassen wurde. Vier Jahre später war Scherer entscheidend am Dachauer Aufstand beteiligt. Nach der Befreiung Dachaus war er als zweiter Bürgermeister der Stadt tätig. Den ASV baute er nach dem Krieg wieder auf und prägte ihn als Vorsitzender für knapp vierzig Jahre. Bezeichnenderweise starb er 1985 auf der Tribüne seines Vereins.

Ihm zu Ehren wird eine Ausstellung im Foyer des ASV-Veranstaltungszentrums zu sehen sein. Die Eröffnungsfeier dafür findet am Donnerstag ab 19 Uhr im Theatersaal des Vereins statt.

Martina Riepl ist die Tochter von Josef Moser, dessen Schicksal sie dokumentierte. "Es war mir ein unglaubliches Bedürfnis das Gedächtnisblatt für meinen Vater zu machen", sagt sie. Moser wurde 1903 im österreichischen Steyr geboren. Als Chefredakteur der Steyrer Zeitung trat er entschieden gegen den Nationalsozialismus ein. Daraufhin wurde Moser festgenommen und 1938 nach Dachau deportiert. Ihr Vater habe nie über diese Zeit gesprochen, aber einiges darüber aufgeschrieben, erzählt Riepl. "Er fühlte sich damals wie ein vogelfreier Sklave im Höllenlager Hitlers."

Moser überlebte das Konzentrationslager, zu seiner journalistischen Tätigkeit fand er jedoch nie wieder zurück. Stattdessen musste er sich und seine Familie mit einer Anstellung als Buchhalter über Wasser halten. Moser verstarb 1986 in seiner Heimatstadt Steyr. "Hitler hat seine Karriere, seine finanzielle Lage und seine Gesundheit nachhaltig geschädigt, aber seine klare, innere Haltung ließ sich nicht zerstören", sagt Riepl.

Auch über die weiteren Häftlinge gibt es tragische und interessante Geschichten zu erzählen. Unter den neuen Gedächtnisblättern befinden sich auch die Biografien zweier Mitglieder des französischen Widerstandes, eines Mitglieds des niederländischen Widerstandes, zweier Juden sowie zweier regimekritischer Bürger. Sie alle waren der Willkür des nationalsozialistischen Regimes ausgesetzt und mussten teils unfassbare Qualen im Konzentrationslager Dachau durchleben. Durch das Gedächtnisbuch-Projekt können zumindest einige Schicksale der tausenden Inhaftierten näher beleuchtet und noch für lange Zeit in Erinnerung behalten werden.

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Quelle:
SZ vom 27.03.2019
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