Süddeutsche Zeitung

Karlsfelds Streetworkerin:Anwältin der Jugendlichen

Lesezeit: 3 min

Die 37-jährige Sozialpädagogin Charide Christin von der Ahe ist Karlsfelds neue Streetworkerin. Sie wechselt von den Brennpunktbezirken Berlins in die vergleichsweise beschauliche Münchner Vorstadtgemeinde

Von Christiane Bracht, Karlsfeld

Sie hat schon viel gesehen und mit Jugendlichen aus schwierigsten Verhältnissen gearbeitet. Jetzt hat Charide Christin von der Ahe Berlin und seine Brennpunktbezirke gegen das vergleichsweise beschauliche Karlsfeld getauscht. Aber nicht, weil sie den Sumpf der Großstadt nicht mehr ertragen hätte, in Berlin hat sich die 37-Jährige immer "pudelwohl" gefühlt, sagt sie. Aber es sei an der Zeit gewesen, raus aus der Stadt zu gehen - "hin zu den Felsen". Von der Ahe ist leidenschaftliche Kletterin. Die Nähe der Alpen begeistert sie. Und das Leben auf dem Dorf habe sie immer gemocht. "Ich bin in Ostwestfalen auf dem Land aufgewachsen", sagt sie. Dort war es noch deutlich ruhiger als in der Vorstadtgemeinde Karlsfeld. Aber dass sie nun von jedem gegrüßt wird, daran müsse sich von der Ahe erst wieder gewöhnen - nach ihrer langen Zeit im relativ anonymen Berlin.

In Karlsfeld ist sie mit offenen Armen empfangen worden. Zwei Jahre gab es keine Streetworkerin mehr im Ort. Jetzt ist Charide Christin von der Ahe da. Sie bezeichnet ihren Job allerdings eher als "aufsuchende Jugendarbeit". Die Teenager in der Gemeinde sind jedenfalls begeistert. "Endlich mal jemand ganz allein für uns", haben sie ihr entgegengerufen.

In der Neuen Mitte hat von der Ahe schon erste Kontakte geknüpft. Dort treffen sich die Jugendlichen seit geraumer Zeit nachmittags - sehr zum Verdruss der Anwohner. Ein paar vermittelnde Gespräche hat die Sozialpädagogin bereits geführt. Doch ihre Position definiert sie klar: "Ich bin die Anwältin der Jugendlichen", sagt sie. Das bedeute aber nicht, dass sie alles hinnehme und gut heiße, was die Jugendlichen machten. "Sie müssen schon für das gerade stehen, was sie angestellt haben", sagt sie.

Charide Christin von der Ahe ist taff - viel mehr als man es auf den ersten Blick vermutet. Sie wirkt angenehm herzlich, geht mit einem Lächeln auf jeden zu, spricht ganz offen und unkompliziert. Man fasst sofort Vertrauen zu ihr. Dass diese zierliche Frau in den vergangenen Jahren in Berlin schon sehr intensiv mit den schwierigsten Teenagern gearbeitet hat, vermutet man zunächst nicht. Und wenn sie davon erzählt, kommt man kaum aus dem Staunen heraus. So betreute sie schwer verhaltensauffällige Jugendliche in einem Heim. Eine Zeit lang kümmerte sie sich auch um Flüchtlingskinder, die sich trotz schwierigster Bedingungen allein von ihrer Heimat auf den Weg nach Deutschland gemacht hatten. "Das war emotional sehr belastend", sagt sie. Denn einige bekamen kein Asyl, andere mussten ihre Ausbildung abbrechen, weil sie plötzlich finanziell keine Unterstützung mehr bekamen. Ein halbes Jahr war die Sozialpädagogin mit straffällig gewordenen Jugendlichen, die zuvor in Haft oder Arrest waren, in der Türkei. Sie arbeitete auch mit Drogenabhängigen oder Kindern, die weder gruppen- noch schulfähig sind, mit 13 Jahren schon an die 40 Einrichtungen besucht hatten und ständig darauf aus waren, andere an ihre Grenzen zu bringen. "Das ist ehrliche Arbeit. Da hängt mein Herzblut dran", sagt von der Ahe. Probleme, sich durchzusetzen, habe sei nie gehabt - auch bei den jungen Männern nicht. "Ich hatte zwei Brüder" erklärt sie grinsend. Zur Not haue sie auch mal mit der Faust auf den Tisch.

In Karlsfeld erwartet sie eine etwas andere Arbeit. "Die Jugendlichen hier sind in einer heileren Welt aufgewachsen", sagt die Pädagogin. Das merke man schon an der Sprache. "Die ist nicht so hart wie in Berlin", sagt sie. Aber direkt fragen, können auch die Karlsfelder Teenager. Bei einem ersten Gruppengespräch über Liebe, Freundschaft und Sexualität wollte die Runde gleich wissen, "wie ich Liebe verstehe", erzählt sie grinsend.

Eines der Hauptthemen ihrer neuen Arbeit werden die Zukunftsängste der Jugendlichen sein, sagt von der Ahe. "Sie kennen den Mietspiegel und wissen, dass es schwierig sein wird, in Karlsfeld zu bleiben." Dabei sei es ihr Karlsfeld. Sie betonen: "Wir sind hier geboren und groß geworden". . . Trotzdem müssen sie vielleicht ihre Heimat verlassen. Das belaste sie, sagt die Sozialpädagogin. Deshalb will sie viel mit den Jugendlichen diskutieren - auch über das Thema "Selbstunterschätzung". Hilfe bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz will von der Ahe ebenfalls anbieten. Sie ist bereits dabei, ein Netzwerk aufzubauen, um Jugendlichen helfen zu können, die nicht die besten Voraussetzungen auf dem Arbeitsmarkt haben. Natürlich gehört auch Spaß und Freizeitgestaltung zu ihrer Arbeit. Am meisten freut sich von der Ahe schon auf den ersten Kletterausflug. Aber das soll nicht der einzige Sport bleiben, den sie mit den 14- bis 26-Jährigen ausüben will.

Ihr Büro und ein Aufenthaltsraum mit Küche werden derzeit in dem großen Neubau an der Parzivalstraße hergerichtet. Dort kann sie dann Kurse und Gesprächsrunden anbieten. Mehr als 3700 Jugendliche gibt es derzeit in Karlsfeld. Das sind etwa 18 Prozent der Bevölkerung. "Mir wird also nicht langweilig", sagt von der Ahe augenzwinkernd. Sie ist bereit, sich in ihre Arbeit "reinzufuchsen". "Wenn ich was mache, mache ich es gern und mit vollem Einsatz."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4725943
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 17.12.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.