Süddeutsche Zeitung

Karlsfelder Historie:Ein Heim in der Fremde

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Die erste Flüchtlingskirche in Bayern stand in der Gerberau. Nach dem Krieg gab sie den Vertriebenen Halt und Geborgenheit. 2005 wurde der Bau abgerissen. Nun erinnert eine Gedenktafel an dieses Kapitel. Das Karlsfelder Ehepaar Rubröder hat zwei Jahre lang darum gekämpft

Von Christiane Bracht, Karlsfeld

Es sollte ein großes Fest werden, mit Weihe. So hatten es sich die älteren Karlsfelder vorgestellt, allen voran Rosi und Horst Rubröder. Doch der 70. Jahrestag der Gerberauer Flüchtlingskirche am 21. August 2019 verlief völlig unspektakulär. Die Erinnerung an die Kirche verblasst langsam - sehr zum Bedauern derer, die dort nach dem Krieg ihre Heimat fanden. Im Juli 2005 wurde das kleine Gotteshaus abgerissen. MAN brauchte das Gelände für Parkplätze. Inzwischen ist dort eine große Neubausiedlung entstanden. Deshalb wollten das Karlsfelder Heimatmuseum und der Pfarrverband Sankt Josef eine Gedenktafel an der Stelle anbringen, an der einst die Flüchtlingskirche stand. Es war die erste in Bayern, so steht es in den Chroniken. Doch die Stadt München, auf deren Grund die Gerberau liegt, legte ihr Veto ein.

Rosi Rubröder deutet auf eine dicke Aktenmappe. Mehr als zwei Jahre hat sie für die Anbringung einer Gedenktafel gekämpft, unzählige Telefonate geführt, Briefe geschrieben, mit Politikern geredet, immer wieder auf die Wichtigkeit ihres Anliegens hingewiesen - und natürlich auch auf die Dringlichkeit. Es waren zähe Verhandlungen. Der Bezirksausschuss Allach-Untermenzing war zwar sofort für die Gedenktafel, aber das Kulturamt der Stadt München prüfte die Sache lange und entschied sich schließlich dagegen. Die Enttäuschung bei den Rubröders war groß, bei den noch lebenden Zeitzeugen ebenfalls. Doch jetzt hat sich ein Kompromiss angebahnt: Sankt Josef in Karlsfeld wird nun an die Notkirche erinnern. Es ist ein guter Ort dafür, denn die katholische Pfarrkirche ist 1967 aus der Flüchtlingskirche hervorgegangen. "Es geht darum, dass das Wissen um die Vergangenheit Karlsfelds publik gemacht wird", sagt Horst Rubröder. "Damit die nächste Generation stolz sein kann auf die Gemeinde, wie sie sich entwickelt hat."

Im ehemaligen Zwangsarbeiterlager von BMW in der Gerberau wurden nach dem Krieg viele Flüchtlinge untergebracht. Unter ihnen war Pfarrer Erich Goldammer. Er stammte aus dem Sudetenland und war voller Tatendrang. Goldammer wollte eine Kirche errichten, um den Gläubigen einen Anker zu geben. Die Idee begeisterte einige Bewohner in den Baracken. Es wurden Pläne gezeichnet, eine Spendenbox aufgestellt, in die jeder, der das Projekt unterstützen wollte, 50 Pfennige einschmeißen konnte. Die Männer fuhren nach München und holten Trümmer von zerbombten Häusern, um die Kirche errichten zu können, berichtet Ilsa Oberbauer, die Leiterin des Heimatmuseums. Am 1. August 1949 war der Bau fertig. Die Kirche wurde dem Heiligen Josef geweiht, weil dieser ebenfalls Flüchtling war. Die Gemeinschaft der Notkirche war stark. Laut Oberbauer hat sie bis heute Bestand. Pfarrer Goldammer gründete eine Jugendgruppe, die sich regelmäßig traf, auch als Sankt Josef schon längst stand. Unter ihnen war wohl auch der Dachauer Künstler Jakob Grauer, der die Gedenktafel anfertigte.

Aus Anlass des Kirchweih-Gottesdienstes ist die Tafel nun geweiht worden, zusammen mit einer zweiten, die den Weg von Sankt Josef zur Notkirche markiert. Beide sollen, wenn die Sanierungsarbeiten an der Pfarrkirche beendet sind, einen Platz im Freien bekommen. "So, dass die Schulkinder sie gut sehen können", sagt Rosi Rubröder, denn gegenüber wird die neue Verbandsgrundschule gebaut. Sie hat ihre Wurzeln ebenfalls in der Gerberau, erzählt Ilsa Oberbauer. Sie ist aus der Barackenschule des BMW-Wohnlagers hervorgegangen. Inzwischen gibt es nur noch etwa ein Dutzend Senioren in Karlsfeld, die von dieser Zeit berichten können. Damit all das nicht in Vergessenheit gerät, soll dies künftig in der Verbandsgrundschule gelehrt werden, das hat Oberbauer angeregt. "Die Kinder sollen wissen, warum München und Karlsfeld so eng verbunden sind."

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SZ vom 10.07.2020
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