Süddeutsche Zeitung

Karlsfeld:Freundinnen auf Leben und Tod

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Seit zehn Jahren gibt es in Karlsfeld eine Selbsthilfegruppe für Krebskranke. In der Runde informieren sich die Mitglieder über Therapien, sie spenden Trost, begleiten einander und besuchen sich. Und es wird auch gelacht. Über eine ganz besondere Schicksalsgemeinschaft

Von Gregor Schiegl, Karlsfeld

Ein Knoten in der Brust. Anita Miklosch merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Noch am selben Tag ließ sie sich von ihrer Frauenärztin untersuchen. Das Ultraschallbild brachte keinen eindeutigen Befund, eine Gewebeentnahme sollte Klarheit bringen. Dann begann das Warten. "Da verzweifelt man", sagt die Röhrmooserin. Als aus dem schrecklichen Verdacht Gewissheit wurde, war sie völlig überfordert. Krebs. "Erst habe ich es verdrängt", sagt Miklosch, aber wie will man eine Krankheit verdrängen, die alles in Frage stellt? Wie kann man den Tatsachen ins Auge sehen, ohne den Mut zu verlieren? Ohne ins Bodenlose zu fallen?

Die Krebsselbsthilfegruppe Karlsfeld hat sie aufgefangen und gibt ihr seit zwei Jahren Halt. Jeden zweiten Mittwoch im Monat treffen sich zehn bis zwölf Mitglieder bei Kaffee und Kuchen im evangelischen Gemeindehaus. "Wir tauschen uns aus: Was passiert bei der Chemo?", erzählt die Leiterin der Gruppe, Maria Hiechinger. "Alle sind per du, man fühlt miteinander, man besucht sich, begleitet andere. Und wir trösten die Leute, die voller Angst zu uns kommen." Die Krankheit kann sehr einsam machen. Gesunde Menschen halten sich das Thema lieber vom Leib oder sie kommen mit Ratschlägen für Tee. Als wäre Krebs nur eine schlimme Erkältung.

Obwohl die Ärzte und Krankenhäuser Patienten gleich den Kontakt zur nächsten Selbsthilfegruppe an die Hand geben - in Dachau gibt es auch eine - ziehen sich manche nach dem Schock der Diagnose lieber zurück und versuchen, sich mit dem Krebs so wenig wie möglich auseinanderzusetzen. "Aber das schafft man nicht alleine", ist Lotte Mühlbauer überzeugt. Dreimal hat die Karlsfelderin gegen Krebs gekämpft, zweimal die Brust, einmal die Lymphdrüsen. Jedes Mal hat sie den Krebs niedergerungen. Es war ein harter Kampf mit Chemotherapie und Bestrahlung. "Das ist kein Spaß, aber ohne Chemo wär' ich heute tot." Lotte Mühlbauer ist eine Dame mit munteren Augen. Dass sie schon 81 ist, sieht man ihr nicht an. Frauen wie sie sind es, die den anderen Kraft und Hoffnung geben. Weil sie das lebende Beispiel sind, dass man es schaffen kann. Dass man sich zurückkämpfen kann ins Leben.

Bei Maria Hiechinger war es genau so. Vor mehr als zehn Jahren wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert. Der Tumor hatte bereits gestreut, die Prognose war, vorsichtig gesagt, nicht gerade günstig. Ohne große Erwartungen ging sie zur Selbsthilfegruppe nach Dachau. "Man kann ja mal hinschauen", meinte sie. "Und dann waren da lauter alte Weiber, topfit, und die haben sogar gelacht." Hiechinger war damals gerade mal 40, und sie dachte sich: Wenn die das mit 60 schaffen, dann schaff ich das ja wohl auch. Heute gilt sie, so weit man das überhaupt sagen kann, als geheilt. Trotzdem hat sie nie daran gedacht, sich aus der Runde zu verabschieden. In der Selbsthilfegruppe werden Freundschaften fürs Leben geschmiedet, zusammengeschweißt durch ein gemeinsames Schicksal, das fast jeden an seine Grenzen bringt. Hier muss keiner dem anderen etwas vormachen.

Christel Niederle aus Petershausen erzählt, wie sie früher auf die Gipfel der Alpen gestiegen ist. "Ich war früher ein richtiger Bergfex." Dann der Befund Speiseröhrenkrebs. Ein Jahr lang musste sie künstlich ernährt werden. Und dann erzählt sie, wie das war, als sie eine Tages diesen Spaziergang unternahm. "Wir waren in einem kleinen Wald. Da habe ich das ganze Grün gespürt, zum ersten Mal. Davor war alles ganz grau. Das Gefühl war so überwältigend." Sie schlägt die Hände vors Gesicht, und versucht die Tränen zu unterdrücken. Aber die Leiterin sagt, sie solle ruhig weinen, hier gibt es keine Tabus. Was in der Runde gesprochen wird, bleibt in der Runde. Alles ist streng vertraulich.

Das Reden ist wichtig, aber wer will schon Geschichten von Krankheit, Schmerzen, Angst und der Übelkeit nach der Chemo hören? "Meine Familie hat sich sehr gekümmert", erzählt Anita Miklosch, "Aber ich wollte niemanden belasten." Außerdem: "Andere verstehen das nicht." Da sind sich alle einig. In der Runde sitzen lauter Expertinnen, die wissen, wie bei der Chemotherapie die Blutkörperchen kaputtgehen, wo die kritische Grenze bei den Leukozyten liegt, die hier alle nur "die Leukos" nennen. "Man kann heute alles im Internet nachlesen", sagt Lotte Mühlbauer. Aber verstehen könne man das nicht. Dazu müsse man mit denen reden, die das alles schon mal selbst erlebt und mitgemacht haben.

Die Ärzte haben sich im Umgang mit den Schwerkranken oft ein dickes Fell zugelegt. Sie reden medizinisches Kauderwelsch, manchmal geht es den Patienten einfach nur zu schnell. Es kann aber auch passieren, dass man Antworten bekommt wie Christel Niederle, die sich nach der Krebsdiagnose bei ihrem Arzt erkundigte, auf welche Veränderungen sie sich nun einstellen müsse. Die Antwort: "Wenn Sie ein chinesisches Dorf ziehen, haben Sie auch Veränderungen." Besonders hilfreich ist das nicht. Deshalb lädt die Selbsthilfegruppe auch immer wieder Experten ein, die Vorträge und halten und die man all das fragen kann, was die Mediziner in der Hektik des Alltagsbetriebs nicht oder nur unzureichend erläutern können.

Wie überall gibt es auch im Selbsthilfekreis Höhen und Tiefen: In einem Jahr verlor die Gruppe drei Mitglieder. Das war schlimm. "Mir tut das auch leid für die Mitglieder, die gerade erst neu zur Gruppe dazustoßen", sagt Maria Hiechinger. Man will ja Kraft und Hoffnung spenden, aber manchmal ist alles Hoffen vergebens. Die Mitbegründerin des Selbsthilfekreises Brigitte Merz hat noch das fünfte Jubiläum miterleben dürfen. Sie starb 2012. Von den 16 Mitgliedern, die sich 2007 zum ersten Mal trafen, leben heute noch elf. Wenn ein Gruppenmitglied stirbt, kommen die anderen zur Beerdigung, es gibt eine kleine Gedenkfeier. Das geht auch Maria Hiechinger an die Nieren. Mehr als einmal hat ihr Sohn gesagt: "Mama, wenn du so mitleidest, solltest du lieber aufhören." Aber sie will weitermachen mit ihren Freundinnen.

Männer gibt es in der Runde kaum, obwohl sie genau so betroffen sind wie die Frauen und auch willkommen sind. "Aber Männer sind gerne unter sich", sagt Maria Hiechinger, und das hat einen Grund: Eines der häufigsten Leiden bei Männern ist Prostatakrebs. So etwas wollen die meisten dann lieber doch nicht in einer Runde von Frauen ansprechen. Zweimal im Jahr fährt die Selbsthilfegruppe ins Theater, man geht gemeinsam Spargelessen oder sie grillen. Das ist wichtig: "Man freut sich über die kleinsten Erlebnisse", sagt Lotte Mühlbauer. "Der Krebs kann nach 18 oder auch nach 28 Jahren wiederkommen." Die Zeit, in der es einem gut geht, muss man gut nutzen.

Zu der Runde gehört auch Anita Neuhaus. Sie kam nicht als Patientin, der Kontakt entstand durch ihre Tätigkeit als frühere SPD-Sozialreferentin des Gemeinderats. "Ich habe versucht, hier rauszukommen", sagt sie lachend. Aber sie fühle sich hier so wohl, und die anderen freuen sich auch, dass sie da ist, weil "die Anita immer so lustige Geschichten erzählt". Ab und zu schaut auch Pfarrer Lorenz Künneth vorbei, und mindestens einmal im Jahr kommt Bürgermeister Stefan Kolbe zu Besuch. "Die Gemeinde unterstützt uns", sagt Maria Hiechinger. Am 1. April feiert die Gruppe ihr zehnjähriges Bestehen.

Die Selbsthilfegruppe Karlsfeld trifft sich jeweils am zweiten Mittwoch im Monat von 15.30 Uhr bis 18 Uhr im Gemeindehaus der Korneliuskirche an der Allacher Straß e. Kontaktdaten und weitere Informationen unter krebshilfe.karlsfeld.de

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Quelle:
SZ vom 24.03.2017
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