Süddeutsche Zeitung

Gedenken:Bedrückend aktuell

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Die Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte wird das 50-jährige Bestehen mit einem Festgottesdienst feiern. Das Jubiläum fällt in eine Zeit, in der das Vermächtnis der NS-Opfer enorm wichtig ist.

Von Susanne Schröder, Dachau

Eigentlich dachten die Protestanten knapp 20 Jahre nach Kriegsende nur an ein schlichtes Sühnekreuz als Ort des Innehaltens in der Gedenkstätte Dachau. Zu groß war die Scham über das weitgehende Versagen der Amtskirche im Nationalsozialismus. Dass daraus ein Gotteshaus mit Kirche und Gesprächsraum wurde, war selbst schon ein Akt der Versöhnung. Eine Gruppe niederländischer Dachau-Überlebender um den Widerstandskämpfer Dirk de Loos ging auf die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zu. Ihr Wunsch: Ein Ort der Besinnung, geschützt vor Regen und Kälte, an dem Begegnung möglich ist.

Also schrieb die EKD 1964 einen Architektenwettbewerb für eine Sühnekirche aus, den ein unbekannter Mannheimer Architekt mit einem spektakulären Entwurf für sich entschied. Der 37-jährige Helmut Striffler hatte nach der ersten Ortsbesichtigung alles über Bord geworfen, was er im Studium gelernt hatte. "Gewehrkugeln fliegen geradeaus", brachte er einmal das tödliche Prinzip des rechten Winkels in der NS-Architektur auf den Punkt. Also plante er die Versöhnungskirche als Zufluchtsort und Versteck.

Halb in den Boden geduckt, mit unebenen Wänden, schiefen Ebenen und stumpfen Winkeln, mit einer breiten Freitreppe, die hinabführt in die Tiefe von Erinnerung und Scham - und einem Fluchtweg durch die Hintertür. "Eine Kirche auf einem ehemaligen KZ-Gelände sollte keine Sackgasse sein", fand der 2015 verstorbene Striffler. Am 30. April 1967 übergab der damalige stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende Kurt Scharf die Schlüssel der Versöhnungskirche an den bayerischen Landesbischof Hermann Dietzfelbinger. Die erste Predigt hielt der KZ-Dachau-Überlebende Martin Niemöller. Glück hatte die Versöhnungskirche nicht nur mit dem Architekten, sondern auch mit ihren Pfarrern und Diakonen. Als erster fester Mitarbeiter säte 1967 Diakon Herbert Römpp mit dem Idealismus eines 27-Jährigen den Samen von Versöhnung zwischen das Leid der Überlebenden und das Leugnen der Alt-Nazis. Mit den Pfarrern Christian Reger und Hans Ludwig Wagner folgten bis 1984 zwei Männer, die selbst Opfer der Nazis geworden waren und den schwierigen Anfängen der Erinnerungsarbeit Autorität verliehen.

Reger erlitt als Häftling Nummer 26661 im "Pfaffenblock" von Dachau vier Jahre lang den Terror des KZs; Wagner floh, als "Volljude" eingestuft, 1938 nach Kanada. Von 1985 bis 2003 kamen Vollblutseelsorger an die Versöhnungskirche: Waldemar Pisarski, Heinrich Bauer und Peter Klentzan begleiteten die wachsende Zahl von Besuchern, scheuten keine politische Auseinandersetzung und ermutigten Zeitzeugen wie Max Mannheimer und Walter Joelsen, ihr Schicksal zu erzählen. Markenzeichen der Versöhnungskirche war und ist es, unbequem zu sein. Beim Hungerstreik der Sinti 1980 gewährte sie den zwölf protestierenden Männern Asyl. Auch der "Rosa Winkel", das damals auf der Gedenkstätte unerwünschte Mahnmal für homosexuelle NS-Opfer, fand hier von 1988 bis 1995 einen Standort. 1993 gewährte die Kirche bei der "Romazuflucht" rund 400 ausreisepflichtigen Menschen aus Ex-Jugoslawien vorübergehenden Schutz - daraus entstand die bis heute aktive Stiftung für Trauma- und Friedensarbeit "Wings of Hope".

Eine Herausforderung der vergangenen Jahre war die schwindende Zahl von KZ-Überlebenden - die Erinnerungsarbeit brauchte ein neues Konzept. Und so haben der Pfarrer und promovierte Historiker Björn Mensing und Diakon Klaus Schultz sich heute mehrere Schwerpunkte gegeben. Sie pflegen enge Kontakte zu den verbliebenen Zeitzeugen und deren Angehörigen, fördern in Kooperation mit dem Gedächtnisbuchprojekt "Namen statt Nummern" immer aufs Neue vergessene Häftlingsbiografien zutage und führen Jahr für Jahr etwa 7000 Besucher über das Gelände. Jedes Jahr stemmen Mensing und Schultz, unterstützt von zwei Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und Kooperationspartnern, ein umfangreiches Bildungsprogramm. Allein 2016 besuchten mehr als 4000 Besucher 47 Veranstaltungen - die Gottesdienste und Andachten nicht mitgerechnet. Doch die Erinnerungsarbeiter strecken ihre Antennen auch weit in die Gegenwart und Zukunft: Sie sind Partner beim Runden Tisch gegen Rassismus der Stadt Dachau, kooperieren mit Stiftungen, Vereinen und Projekten, beackern tagespolitische Themen wie die NSU-Morde und tragen das Gedenken mit dem Fußballfanprojekt der Initiative "Nie wieder!" sogar bis in die Bundesligastadien. "Damit hebt sich die Versöhnungskirche von der Arbeit der staatlichen Gedenkstätte ab, die sich mehr auf die NS-Zeit konzentriert", sagt Mensing.

Wer wie Mensing und Schultz seit Jahren in der KZ-Gedenkstätte arbeitet, weiß, wie schmal der Grat sein kann, der das Leben von der Hölle trennt. Deshalb gehören für sie Erinnerungsarbeit und Tagespolitik untrennbar zusammen. "Indem wir an die Menschen erinnern, die damals ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt wurden, richten wir automatisch den Blick auf die Ausgegrenzten, Diskriminierten und Verfolgten der Gegenwart", sagt Kirchenrat Mensing. Das Vermächtnis des "Nie wieder!" habe sich leider nicht erfüllt. Der Blick auf die Völker- und Massenmorde der letzten Jahre genüge. Der Auftrag sei so aktuell wie 1967.

Der Festgottesdienst zum 50-jährigen Bestehen der Versöhnungskirche findet am Samstag, 29. April, um 16 Uhr statt. Die Predigt hält Bischof Daniel Zenaty von den Böhmischen Brüdern in Prag. Als Ehrengäste werden Ernst Grube von der Lagergemeinschaft erwartet, Pieter Dietz de Loos, Sohn des Initiators Dirk de Loos, Heinz Niemöller, Sohn des KZ-Dachau-Überlebenden Martin Niemöller und Karl Bonhoeffer, Neffe des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer.

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Quelle:
SZ vom 27.04.2017
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