Süddeutsche Zeitung

Befreiung des KZ Dachau:Erinnern gegen den Hass

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Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des KZ Dachau halten Überlebende und Politiker bewegende Reden per Video. Sie alle warnen eindringlich vor einem wiedererstarkten Rechtsextremismus und Antisemitismus.

Von Helmut Zeller, Dachau

Schon als Kind ist Josef Schuster jedes Jahr nach Dachau gefahren. Die Begegnung mit Überlebenden des Konzentrationslagers bei ihren Zusammenkünften an der KZ-Gedenkstätte wirkten jedes Mal lange nach. Auch seine eigene Geschichte war und ist mit Dachau verbunden. Sein Vater David und sein Großvater Julius wurden 1937 nach Dachau und dann nach Buchenwald verschleppt. Unter der Auflage, nach Palästina auszuwandern, kamen sie frei.

Dieses Mal waren alle Veranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der KZ-Häftlinge am 29. April 1945 durch amerikanische Soldaten abgesagt - das Gedenken fand wegen der Corona-Pandemie im virtuellen Raum statt. Der heute 66-jährige Josef Schuster, seit sechs Jahren Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hielt per Video eine bewegende Rede. Er mahnte eindringlich vor Rechtsextremismus und Antisemitismus und forderte Politik und Justiz in Deutschland auf, ihre Anstrengungen zu verstärken, um dem Rechtsruck Einhalt zu gebieten. In allen Reden klang dieses Jahr die Sorge um die Rückkehr des Hasses mit.

Die Zustimmung für die AfD werde wieder steigen, so Josef Schuster, wenn die Lage sich nach der Corona-Krise normalisiert habe. Gleichzeitig sei die Demokratie mit einem zunehmend gewalttätigen Rechtsextremismus konfrontiert. Rechtsextreme nutzten die Krise skrupellos aus, um mit Verschwörungserzählungen gegen Juden und Israel zu hetzen. In der Krise, so Schuster, wachse die Empfänglichkeit für rechtsextremes Gedankengut.

Leider stelle er fest, so Schuster den Philosophen Theodor W. Adorno zitierend, dass das Ungeheuerliche, das sich in Nazideutschland zutrug, in viele Menschen noch nicht eingedrungen ist. Deshalb betonte der Zentralratspräsident, wie notwendig "Demokratieerziehung und Holocaust Education" in Schulen und Universitäten seien - nur auf diesem Weg könne man dem Schlussstrich-Denken mancher Politiker entgegenwirken. "Wer wegschaut, vergibt die Chance, unsere Demokratie zu sichern."

Der ehemalige Stiftungsdirektor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Volkhard Knigge, sieht das auch so. Der 66-jährige Historiker, wissenschaftlicher Leiter einiger Tagungen des Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte, hatte zunächst Björn Höcke und inzwischen der ganzen AfD-Spitze an Gedenktagen Hausverbot erteilt. Er glaubt nicht an eine Läuterung der Partei, wie er dem Evangelischen Pressedienst in Erfurt sagte. "Im Gegenteil, Höcke hat - was er selbst zugibt - seine historische Mission erfüllt", sagte Knigge. Die ganze Partei sei doch laut Höcke inzwischen "Flügel".

Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, sagte in ihrer Videobotschaft: "Die Würde des Menschen und seine Freiheit zu verteidigen, das ist eine Aufgabe aller Menschen in diesem Land." Charlotte Knobloch erinnerte daran, dass die Überlebenden in diesen Tagen vor 75 Jahren ihr Leben retten konnten, sie erlangten die Freiheit, aber auch ihre Würde, ihren Stolz zurück und konnten sich wieder als Menschen sehen. "Das war die wirkliche Befreiung." Niemals dürfe das Andenken an die Opfer vergessen werden, auch dann nicht, wenn die letzten Zeitzeugen gegangen sind.

Vor dem zunehmendem Antisemitismus hatte Charlotte Knobloch schon im Vorfeld der Gedenkfeier gewarnt. "Man ist natürlich aufgrund der ganzen Situation ein bisschen besorgter, als noch vor zehn Jahren. Daran ist auch die AfD schuld, die AfD bricht Tabus", hatte sie der Deutschen Presseagentur gesagt. "Ich bin manchmal über die vornehme Zurückhaltung, die ich bei AfD-Exzessen feststellen muss, sehr überrascht. Die Demokratie hat viele Freiheiten, aber die Freiheiten haben auch Grenzen, und die müssen deutlich gezeigt werden."

Jean-Michel Thomas, Präsident des Comité International de Dachau (CID), sagte, zwölf Jahre lang sei das KZ Dachau ein Symbol des Regimes, ein Modell des KZ-Systems gewesen, basierend auf der Unterdrückung der deutschen politischen Gegner, der Häftlinge aus den besetzten Ländern, der Juden, der Sinti und Roma und weiterer Häftlingsgruppen. Zur Befreiung sagte er: "Sie, die Häftlinge, waren dann keine "Stücke" mehr, sondern wieder Menschen. Sie waren bestrebt, ihre Familien, ihre Dörfer, ihre Heimat wieder zu sehen, die endlich vom Nationalsozialismus befreit waren und für die viele von ihnen Widerstand geleistet hatten. Sie waren bestrebt, den Nationalstaat des jüdischen Volkes zu gründen: Israel."

Wie Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann sagte, ist es Aufgabe der Gedenkstätten, im politischen Diskurs klar Position zu beziehen. Orte wie Dachau hätten die Funktion, "den Finger in die Wunde zu legen", sagte Hammermann am Mittwoch dem Bayerischen Rundfunk. Dies sei wichtig "angesichts eines zunehmenden Rechtspopulismus und zunehmender Versuche von geschichtsrevisionistischen Bewegungen und Parteien". Es gehe darum zu vermitteln, wohin Menschenverachtung, Ausgrenzung und Demokratieverachtung führen könnten.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) erinnerte in seiner Videobotschaft daran, dass Europa auf Fundamenten stehe, die vor 75 Jahren gelegt worden seien: "Unveräußerliche Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind und bleiben grundlegend wichtig, gerade weil wir diese historische Erfahrung gemacht haben. Einige wollen diese Botschaft inzwischen nicht mehr hören, sie sind der Beschwörung des Nie wieder! überdrüssig. Über die Jahrzehnte seit Ende des Zweiten Weltkriegs verblasst die unmittelbare Erinnerung, es wird schon bald am authentischen Bericht lebender Zeitzeugen fehlen. Andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit rückten in den Vordergrund. Zwangsläufig verschieben sich dadurch Perspektiven. Doch es gibt nichts zu relativieren: die Taten der einen löschen nicht die Taten anderer! Die in den Konzentrationslagern ermordeten Menschen verschwinden nicht dadurch, dass nach ihnen andere gequält und getötet wurden. Ihre Geschichte bleibt unsere Geschichte."

Soldaten der 7. US-Armee hatten das Lager am 29. April 1945 befreit. Rund 32 000 Menschen waren noch in dem KZ gefangen. Neben entkräfteten und ausgezehrten Häftlingen fanden die Soldaten auch viele Tote. Seit November wütete eine Fleckfieberepidemie, der bis in den Mai hinein insgesamt 15 000 Menschen zum Opfer fielen. Dachau war das erste dauerhafte Lager und wurde im März 1933 in Betrieb genommen.

Es galt als Modell für alle späteren Konzentrationslager und Vernichtungslager. Bis 1945 waren in dem Lager und seinen 140 Außenlagern und Außenkommandos mehr als 200 000 Menschen aus ganz Europa in Haft, darunter Kommunisten, Sozialdemokraten, Priester, Juden, Roma und Sinti sowie Homosexuelle. Der Widerstandskämpfer Georg Elser, dessen Attentat auf Adolf Hitler gescheitert war, wurde noch am 9. April 1945 in Dachau erschossen. Insgesamt starben 41 500 Menschen.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, Landtagspräsidentin Ilse Aigner und der Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, Karl Freller, (alle CSU) hatten an der Gedenkstätte Dachau bereits am Mittwoch Kränze niedergelegt. Dachau sei eine Mahnung zum Einsatz gegen Hass, Fanatismus und Antisemitismus, sagte Söder. Ilse Aigner sagte: "Wir haben das Versprechen Nie wieder! nicht halten können. Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus - Verachtung in vielerlei Formen treten öfter und offener zutage."

Die Gedenkfeier soll nachgeholt werden - am 2. Mai 2021

Eigentlich war in Dachau am Sonntag eine große Gedenkfeier mit ehemaligen Häftlingen, ihren Familien und Befreiern geplant - insgesamt 90 Zeitzeugen wurden erwartet. Sie soll nun im kommenden Jahr am 2. Mai nachgeholt werden, wie Karl Freller versicherte. Auf der Homepage der KZ-Gedenkstätte sind eine ganze Reihe von Grußbotschaften zu lesen und zu hören: darunter von 29 Überlebenden und vier Befreiern. "Für die Überlebenden war diese Absage wirklich unglaublich bitter", sagte Hammermann.

Viele der Nachkommen hätten erzählt, dass die Aussicht auf diese Reise ihren Vätern oder Großvätern viel Auftrieb gegeben habe. Dazu komme, dass viele der Betroffenen in einem schwierigen Gesundheitszustand seien und deshalb fürchteten, eine spätere Reise nicht mehr machen zu können. Ihr Vermächtnis bleibe aber, erklärte der Holocaust-Überlebende Ernst Grube, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau. "Jetzt sind es die Kinder und Enkel, die das weiterführen. Es sind nicht sehr viele - aber immerhin."

Eine davon ist Dana Bloch, Enkelin des Holocaust-Überlebenden Abba Naor. Der 92-jährige Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees erlebte in diesen Tagen online eine Riesenüberraschung. Israels Armeeorchester sowie das Orchester der US-Marinestreitkräfte in Europa spielten für ihn bereits am Mittwoch, an dem auch der 72. israelische Unabhängigkeitstag begangen wurde, die israelische Nationalhymne Hatikwa. Die Soldaten in Uniform salutierten vor dem sichtlich bewegten Naor. "Ich habe, ehrlich gesagt, Ihnen zu danken, denn Sie haben 1945 mein Leben gerettet", sagte Naor an die US-Streitkräfte gerichtet. "Das ist ein Tag, den ich nie vergessen werde."

Abba Naor aus Litauen hat im Holocaust seine Mutter und zwei Brüder verloren. Nur sein Vater und er überlebten. Abba Naor wurde auf dem Todesmarsch am 2. Mai bei Waakirchen befreit. Mit einer stillen Kranzniederlegung haben Vertreter von Stadt und Kirche am Samstagabend an die Opfer des Dachauer Todesmarschs erinnert. Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD), Diakon Klaus Schultz und Annerose Stanglmayr vom "Trägerkreis Todesmarsch" gedachten am Mahnmal in Dachau der ungefähr 7000 KZ-Häftlinge, die am 26. April 1945 von der SS auf einen Marsch Richtung Süden gezwungen worden waren.

Zwischen 1000 und 3000 Menschen starben auf dem Todesmarsch an Hunger und Entkräftung oder wurden, weil sie nicht mehr weitergehen konnten, von den Wachmannschaften erschossen oder zu Tode geprügelt. In der Nacht auf den 2. Mai 1945 flohen die letzten SS-Wachen vor den anrückenden US-Panzern, und die überlebenden Häftlinge, vor allem Russen, "Reichsdeutsche" und Juden, waren frei. 14 Skulpturen des Bildhauers Hubertus von Pilgrim erinnern auf der Wegstrecke zwischen Dachau und Tegernsee an diese Opfer des Naziregimes.

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Quelle:
SZ vom 04.05.2020
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