Süddeutsche Zeitung

Demonstration in Dachau:Mehr als eine Frage des Rechts

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Auf dem Dachauer Rathausplatz kommen am Mittwoch rund 250 Menschen zusammen, um die Rückkehr der nach Nigeria abgeschobenen Familie Esiovwa aus Karlsfeld zu fordern. Über einen Abend der Wut, der Enttäuschung - aber auch der Hoffnung auf Veränderung.

Von Jacqueline Lang, Dachau

Noch nie stand Ngozi auf einer Bühne, noch nie hat sie vor so vielen Menschen gesungen. An diesem schwülen Sommerabend, gut eine Woche nach der nächtlichen Abschiebung ihrer Nachbarn, des besten Freundes ihres Vaters, ist es der 13-Jährigen jedoch ein Anliegen, ihre Stimme zu erheben. Und so steht das Mädchen auf den Treppen vor dem Dachauer Rathaus und singt mit sanfter Stimme: "Oh, deep in my heart I know that I do believe we shall overcome, someday" - frei übersetzt: Tief in meinem Herzen glaube ich fest daran: Wir werden alle frei sein, eines Tages. Die rund 250 Menschen, die ihr zu Füßen stehen, stimmen in den Protestsong ein: Ein wenig schief, aber nicht weniger von Herzen. Es ist der letzte, aber wohl eindrücklichste Appell an diesem Mittwochabend, an dem ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis die Rückkehr der Familie Esiovwa fordert, die am 12. Juli mitten in der Nacht nach Nigeria abgeschoben worden ist.

Es gehe nun um die Frage, was man konkret tun könne, um der Karlsfelder Familie in dieser schwierigen Lage zu helfen, sagt Martin Modlinger, einer der Organisatoren und Vorstandsmitglied der Seebrücke Dachau, gleich zu Beginn der Kundgebung. Dazu gehöre auch die Klärung der Frage, ob die Abschiebung rechtens gewesen sei. Denn: Sollte es rein rechtlich nichts zu beanstanden gegeben haben, "dann müssen wir das Recht ändern".

Julie Richardson, die den abgeschobenen zehnjährigen Gabriel als Diplompsychologin seit vielen Jahren begleitet hat, zeigt sich in ihrer Rede erschüttert über die Vorfälle. Erst sehr spät habe sie von den vielen gesundheitlichen Problemen der Familie Esiovwa erfahren, ebenso von der damals noch nur drohenden Abschiebung. Daraufhin habe sie gemeinsam mit der Familie versucht, alle nötigen Unterlagen für die Härtefallprüfung zusammenzubekommen. Bis zu dieser Prüfung, das sei ihnen zugesichert worden, werde keine Abschiebung erfolgen. Als der kleine Gabriel dann eines Tages nicht an seinem Platz gesessen habe, sei es ihr dennoch sofort "eiskalt den Rücken runtergelaufen". Und nun? Da fehle das ansteckende Lachen dieses Jungen, der für so viele seiner Klassenkameraden eine Schulter zum Anlehnen gewesen sei.

Einer von denen, die den Zehnjährigen besonders schmerzhaft vermissen, ist Daniel, der an diesem Abend an seine Mutter gedrängt in der Menge steht. Damit Gabriel bald wieder zurück kommt, hat der Neujährige sein gesamtes Ersparnis in die Spendenbox geworfen. Warum? Der Junge guckt, als verstehe er die Frage nicht: "Weil Gabriel mein bester Freund ist."

Dale Carpenter, Geschäftsführer des Grünen-Kreisverbands, entschuldigt zunächst das Fehlen der Bundestagsabgeordneten Beate Walter-Rosenheimer. Später wird ein Blick durch die Menschenmenge offenbaren, dass auch viele andere politische Figuren aus der Kommunalpolitik nicht da sind. Carpenter kritisiert, dass "Vorschriften und Formalismen" in diesem Fall "ganz klar menschlichen Schicksalen" vorgezogen worden seien. Die Erinnerung an die nächtliche Abschiebung werde die drei Kinder ihr ganzes Leben "verfolgen" - Stefanie ist elf, Gabriel zehn, Claudia gerade einmal sechs. Es sind Gedanken, die vermutlich auch den Vater der drei, Nicholas Esiovwa, plagen, wenn er seine verängstigten Kinder nun weinen sieht, weil man sie in ein Land gebracht hat, das für sie nicht Heimat ist. In einer Nachricht an die SZ Dachau schreibt er, es gebe ihm Hoffnung, dass die Menschen für ihn und seine Familie auf die Straße gehen.

Michael Schrodi ist "fassungslos und wütend"

Michael Schrodi, Bundestagsabgeordneter der SPD, sagt, er sehe es als seine Aufgabe als Politiker, Probleme sachlich anzugehen, doch gleichzeitig gebe es Fälle, so wie diesen, die einen "fassungslos und wütend" zurückließen. Es sei, so Schrodi, nur noch als "zynisch" zu bezeichnen, dass seitens der Behörden erklärt worden sei, dass man dem an einer Autoimmunerkrankung leidenden Familienvater ja zwei Taschen voller Medikamente mitgegeben habe.

Außerdem, so Schrodi weiter, sei die Aussage des Landrats, wonach die Härtefallkommission ihr Einverständnis zu der Abschiebung gegeben habe, schlichtweg falsch - sie habe ja noch nicht einmal getagt. Der Fall der Familie Esiovwa stand kurz vor der Eingabe bei der Kommision. Er sei enttäuscht, dass von den Dachauer Behörden nicht, wie vom Landrat bei einem Gespräch nach der Abschiebung Moussa Nomoko vor gut einem Jahr zugesagt, das geplante Chancenaufenthaltsgesetz abgewartet worden sei. Trotz dieses fragwürdigen Verhaltens sei er aber weiterhin dazu bereit, bei der Rückholung mit dem Dachauer Landratsamt zusammenzuarbeiten. "An mir soll's nicht scheitern."

Martin Modlinger widerspricht Schrodi an dieser Stelle: Seines Wissens wäre nur sechs Fällen im gesamten Landkreis mit dem neuen Gesetz geholfen, die Familie Esiovwa wäre vermutlich nicht unter ihnen gewesen.

Die Grünen-Kreisrätin Sabrina Spallek spricht an diesem Abend vor allem als Mutter einer Tochter, die nicht versteht, warum Gabriel am Wochenende nicht zu ihrer Geburtstagsparty kommen wird - obwohl sie ihn doch eingeladen hat. "Ich stehe hier für all die Kinder, die über Nacht ihre Freunde verlieren", sagt Spallek. Obwohl sie die Abschiebung der Esiovwas kritisiert, sagt sie, sie wolle eine Lanze für den Landrat brechen, denn es gehe vor allem um Gesetze, die es zu ändern gelte. Im Publikum scheint sie damit nicht auf Zuspruch zu stoßen: Ein Raunen geht durch die Menge. "Handlungsspielraum" ruft einer, von "Haltung" spricht ein anderer. Die Dachauerin Sissi Havermann formuliert es auf dem Plakat, das sie in die Höhe hält noch drastischer: "Herr Löwl, die Stimmen der AfD sind Ihnen sicher."

"Wir brauchen Brücken"

Auch Stefan Haas, der für die Grünen im Bergkirchner Gemeinderat sitzt und sich im dortigen Helferkreis engagiert, findet es mit Blick auf die jüngsten Ereignisse schwer, Partei für Landrat Löwl zu ergreifen. Er habe gedacht, dieser würde nach dem Fall Nomoko Brücken bauen wollen. "Aber er hat keine Brücken gebaut, keine einzige. Dabei brauchen wir Brücken." Auch sich selbst und seine Mitstreitenden nimmt er aber von der Kritik nicht aus mit Blick auf die Familie, die nun trotz aller Bemühungen in Lagos ausharrt: "Wir müssen das besser machen."

Es hallt noch der Gesang der 13-jährigen Ngozi nach, als Organisator Modlinger die Demonstrierenden mit folgenden Worten in den Abend entlässt: "Wir beenden jetzt diese Veranstaltung, aber nicht die Arbeit an einer anderen Welt."

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