Süddeutsche Zeitung

Aufarbeitung der NS-Vergangenheit:Geschichte und Nachgeschichte im Blick

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Eine Tagung zur Widerstandsgruppe Weiße Rose klärt die Frage, was 75 Jahre danach noch bleibt

Kirchenrat Björn Mensing von der evangelischen Versöhnungskirche in Dachau ist eigentlich freigestellt - er erforscht im Auftrag der Landeskirche die Verstrickung seiner Kirche mit NS-belasteten Pfarrern und anderen Mitarbeitern nach 1945. Aber dieser Termin liegt ihm doch, wie er sagt, sehr am Herzen: "75 Jahre Weiße Rose - Was bleibt?", so der Titel einer Tagung, die von der Versöhnungskirche an der KZ-Gedenkstätte Dachau, der Evangelischen Akademie Tutzing und der Weiße Rose Stiftung gemeinsam in Tutzing veranstaltet wird. An der Veranstaltung vom 8. bis 10. Juni nehmen die 98 Jahre alte ehemalige Studienfreundin von Mitgliedern der Weißen Rose, Experten und Studenten teil.

Was bleibt? Dass in diesem Land 73 Jahre nach Kriegsende aus der Mitte der Gesellschaft der Judenhass aus dem Schatten von Auschwitz heraustritt - und deutsche Juden abermals um ihre Sicherheit bangen müssen. Auch deshalb ist Pfarrer Mensing diese Veranstaltung so wichtig, als ein Zeichen nicht nur des Gedenkens, sondern auch gegen den erstarkenden Antisemitismus und Rassismus in Deutschland. "Die ermordeten Mitglieder der Weißen Rose wurden früh zu Ikonen des Widerstands. Ihr Mut und ihre Aufrichtigkeit inmitten des Inhumanen bleiben herausragend. Zur Auseinandersetzung mit ihrem Kampf gegen Diktatur und Unrecht gehört indes mehr als die Heroisierung", erklärt Björn Mensing.

Der Blick muss von der Geschichte auf die Nachgeschichte übergehen: Gespräche mit den Zeitzeugen Eva Hönigschmid (98), Walter Joelsen (91), Charlotte Knobloch (85), Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, leiten den Blick in die Gegenwart.

Eva Hönigschmid: Sie wurde am 6. Februar 1920 in Kvasice in der Tschechoslowakei geboren. 1939 kam die NS-kritische junge Frau zum Studium nach München, wo sie beim Fechtunterricht Alexander Schmorell und Christoph Probst kennenlernte. Bald nach ihrer Heirat 1940 brach sie das Studium ab, als das erste Kind unterwegs war. Mit Mann und später zwei Kindern lebte sie in Prag. Mit Alexander Schmorell blieb sie bis Anfang 1943 in Kontakt. Nach ihrer Erinnerung fragte er sie bei ihrer letzten Begegnung in München, ob sie bereit wäre, Flugblätter in Prag zu verbreiten.

Aus Angst vor der Gefährdung eines Verwandten, der wegen seiner jüdischen Herkunft besonders der Verfolgung ausgesetzt war, und ihrer jungen Familie lehnte sie ab. Als die Gestapo dann einige Wochen später nach Alexander Schmorell fahndete, wurde auch Eva Hönigschmid überwacht. Heute lebt Eva Hönigschmid im Landkreis Dachau, wo sie im Februar ihren 98. Geburtstag feierte. Das Zeitzeugengespräch am 9. Juni um 17 Uhr moderiert Björn Mensing. Die Zeitzeugen führen auch ein Gespräch mit Studenten der LMU in München.

Mit einer Konzertlesung - "ohne Christus wäre alles unaushaltbar" - beginnt am 8. Juni, um 20.30 Uhr die Tagung. "Ich glaube, ein Mensch kann auch Christ sein, ohne gerade Kirchenmitglied zu sein" - das schrieb die 19-jährige Sophie Scholl im August 1940 ihrem Freund Fritz Hartnagel. Sophie Scholl und auch andere junge Frauen und Männer aus dem Umfeld der Widerstandsgruppe Weiße Rose setzten sich kritisch mit Kirche, Religion und Glauben auseinander.

Schließlich verband den Kreis ein undogmatisches und überkonfessionell gelebtes Christentum, das für Impulse aus anderen Konfessionen offen war. Hans und Sophie Scholl hatten einen evangelischen Hintergrund, Willi Graf und Christoph Probst waren vom Katholizismus geprägt, Alexander Schmorell von der russisch-orthodoxen Tradition.

Auch der Protestant Hans Leipelt aus der Münchner Nachfolgegruppe der Weißen Rose fand in der Haft in München-Stadelheim Halt im Glauben. Seine Freundin Marie-Luise Schultze-Jahn hatte ihn im Widerstand zunächst als Skeptiker kennengelernt und fragte sich nach seiner Hinrichtung oft, "ob sich das dann gehalten hätte, wenn wir, sagen wir mal, befreit worden wären, das weiß ich nicht." Junge Künstler tragen Anstößiges und Berührendes aus den privaten Briefwechseln der Studenten vor. Es geht den Veranstaltern darum, einen Blick auf die Widerstandskämpfer nicht nur als Helden, sondern auch in ihrer Menschlichkeit zu werfen.

Vorträge halten die Historiker und Wissenschaftler Angela Bottin, Christiane Caemmerer, Miriam Gebhardt, Maren Gottschalk, Hans Günter Hockerts und Robert Zoske. Sie werden erhellende Einblicke in die Geschichte und die Rezeptionsgeschichte seit Kriegsende bieten.

Als Ehrengäste kommen Hans-Jochen Vogel (92), Joachim Baez, Neffe und Patenkind von Willi Graf, Markus Schmorell, Neffe von Alexander Schmorell, Sebastian Probst, Enkelsohn von Christoph Probst, Esther Sepp und Stephan Weiß, Enkelkinder von Professor Kurt Huber. Zwischen den Lesungen erklingt Musik: Die 23-jährige Sopranistin Sophie Aeckerle aus Dachau singt Lieder von Georg Friedrich Händel und Franz Schubert, aber auch Schlager und Jazz. Die Auswahl und Anmoderation der Texte liegt bei Björn Mensing, dem Landeskirchlichen Beauftragten für Gedenkstättenarbeit. Die Tagungsleitung liegt bei Ulrike Haerendel, Hildegard Kronawitter und Björn Mensing.

Programm und Anmeldung: Evangelische Akademie Tutzing, Tagungsorganisation: Rita Niedermaier, Telefon: 08158/ 251-128, E-Mail: niedermaier@ev-akademie-tutzing.de; https://www.ev-akademie-tutzing.de/veranstaltung/75-jahre-weisse-rose-was-bleibt. Der Anmeldeschluss ist am 25. Mai. Zu einzelnen Programmpunkten kann man sich aber auch noch später bei der Evangelischen Akademie anmelden. Freitag, 8. Juni, 18 Uhr, bis Sonntag, 10. Juni, 13 Uhr, in der Evangelischen Akademie Tutzing.

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SZ vom 23.05.2018 / sz
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