Süddeutsche Zeitung

Corona-Krise:Die Sehnsucht nach Normalität in der Schuhschachtel

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Wer in diesem Frühling Menschen treffen will, der starrt auf kleine Rechtecke auf dem Bildschirm. Und die große weite Welt schmilzt auf die Größe einer Münchner Wohnung zusammen.

Kolumne von Anna Hoben

Die Welt, sie ist in diesem Frühjahr sehr klein geworden. Für viele Münchner im Home-Office bedeuten die Grenzen ihrer Schuhschachtel-Wohnung jetzt die Grenzen ihrer Welt. Globalisierung ist erst mal abgesagt. In den sozialen Medien werden trotzdem Reisepläne geschmiedet. Soll es im Sommer nach Sofambik gehen oder lieber nach Garteneriffa? Vielleicht nach Kommodena oder Fluruguay? Wandalusien wäre eine Möglichkeit, oder eine Städtereise nach Kloronto. Man könnte es sich aber auch in Großbettanien gemütlich machen. Waschbeckentucky ist, wie man hört, ein unterschätztes Reiseziel. Oder doch klassisch nach Balkongo?

Das Frühjahr 2020 wird auch als die Zeit ins kollektive Gedächtnis eingehen, in der Menschen treffen bedeutete, auf einen Bildschirm mit unterschiedlich großen rechteckigen Kästchen zu starren. In den Kästchen: Gesichter in Wohnzimmern, in Küchen, in Kinderzimmern. Von Kollegen, von Freunden, von der Familie. Mal sind es nur zwei Kästchen, mal vier. Bei so manchem Team-Meeting im Home-Office 25 Kästchen oder mehr. Bisweilen ist dem neuen Home-Office-Menschen, als ob es 1000 Kästchen gäbe. Und hinter 1000 Kästchen keine Welt.

Aber natürlich gibt es dahinter auch in Zeiten von Corona eine Welt. Man kann rausgehen in diese Welt, zum Beispiel ans Isarufer in Untergiesing. Dort steht seit einiger Zeit ein Tipi-Gerüst, wohl von Kindern errichtet aus dicken Ästen. Gut verschlossen in einer Tüte hängt die Tipi-Post. Spaziergänger können ihre Gedanken auf ein Stück Papier kritzeln und es in die Tüte stecken. Auch so entsteht eine Art Team-Meeting, zeitversetzt und ohne 1000 Kästchen auf einem Bildschirm. "Ich hoffe, dass der Coronavirus bald vorbei ist!", schreibt jemand. "Dann feiern wir Schokoladenparty am Tipi!"

Bis dahin lässt sich die Schokoladenparty zu Hause ganz einfach mit, sagen wir, einem Theaterbesuch verbinden. Es gibt ja nun einen exponentiellen Anstieg digitaler Kulturangebote im Netz. Zu den schönsten Momente der vergangenen Woche trugen die Kammerspiele mit ihrer experimentellen Live-Performance Yung Faust bei. Vier Schauspieler, jeder zu Hause am Bildschirm, vor Büchern oder hinter Tulpen. Irgendwann schaltet sich das Publikum dazu, Kästchen für Kästchen. Nicht nur, weil man von der Mimik so viel mehr mitkriegt als auf Platz 8, Reihe 2, Balkon rechs, entsteht eine ganz besondere Nähe zwischen Spielern und Zuschauern. Und so wird die Welt in diesem Frühjahr auch mal ganz groß.

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Quelle:
SZ vom 28.03.2020
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