Süddeutsche Zeitung

Demos gegen Corona-Regeln:Die große Viruswut

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Tausende, die sich mitten in München versammeln, alle Abstandsvorschriften missachten und gegen die Corona-Regeln demonstrieren: An diesem Samstag könnte es wieder so kommen. Sind die staatlichen Akteure dieses Mal besser vorbereitet?

Von Bernd Kastner, München

Die Stadt versucht sich erneut an einem Spagat. Hier das Gewähren von Grundrechten, dort der Schutz der Gesundheit. Viele Hundert, vielleicht Tausende Demonstranten werden diesen Samstag wohl auf die Theresienwiese strömen, um gegen staatliche Corona-Restriktionen zu protestieren. Bei der letzten großen Demo dieser Art auf dem Marienplatz kamen statt der angemeldeten 80 Teilnehmer um die 3000, viele missachteten die Abstandsregeln. Was passiert diesmal?

Maximal 1000 Teilnehmer hat die Stadt zugelassen. Der Anmelder bestand im Kooperationsgespräch mit dem Kreisverwaltungsreferat (KVR) bis zuletzt auf einer Genehmigung für 10 000 Besucher. Weil er das nicht erreichte, rechnete das KVR damit, dass der Mann vors Verwaltungsgericht zieht. Bei Redaktionsschluss war dort aber noch kein Eilantrag eingegangen. Als zweite Instanz wäre noch der Gang vor den Verwaltungsgerichtshof (VGH) möglich, der dann bis kurz vor Beginn der Demo am Samstagnachmittag Zeit hätte.

Welche Teilnehmerzahl auch immer herauskommt, die Polizei will mit einem großen Aufgebot die Auflagen des KVR durchsetzen. Vor allem müssen die Demonstranten Abstand halten voneinander, mindestens eineinhalb Meter. Pro 100 Teilnehmer ist ein Ordner vorgeschrieben. Eine Maskenpflicht gibt es nicht, die würde dem Vermummungsverbot widersprechen; verboten aber ist das Tragen auch nicht.

Neben der großen Demo auf der Wiesn sind am Samstag vier weitere kleine angemeldet, meist mit bis zu 50 Teilnehmern. Das KVR hat die Initiatoren dazu gebracht, nicht auf den ursprünglich gewünschten Plätzen in der City zu bestehen, sondern auf Orte außerhalb der Altstadt auszuweichen. Da geht es mal, wie auf der Wiesn, um "Grundrechte", mal um wohl unverdächtige Sorgen von Soloselbständigen.

Vor allem auf der Theresienwiese werden die Demonstranten Behörden und Bürgern vermutlich eine schwierige politische und juristische Übung aufzwingen. Es gilt, Rechte zu garantieren und Pflichten durchzusetzen, was in Corona-Zeiten schwer zu vereinbaren ist. Da ist die Versammlungsfreiheit, aber auch die Pflicht, sich und andere vor Ansteckung zu schützen. Es gilt, Abstand zu halten und zugleich zu ermöglichen, dass genau dagegen protestiert werden kann. Als Leitplanken gibt es für die Akteure die restriktive Corona-Verordnung des Freistaats, die eigentlich Demos nur bis 50 Personen erlaubt und zugleich aus den letzten Wochen drei Entscheidungen des VGH, der Verbote der Stadt kippte: Es darf trotzdem demonstriert werden.

So verärgert viele Münchner über die 3000 Demonstranten vom Marienplatz sind, so alarmiert ist man auch im Rathaus. Über ein Verbot der neuen Demo aufgrund der Corona-Verordnung wurde wohl nachgedacht, ernsthaft erwogen wurde es nicht. Vermutlich ist es der Polizei lieber, alle Demonstranten an einem Ort zu wissen, als verstreut über die halbe Stadt. Nicht mal im Stadtrat wurde am Mittwoch ein Verbot gefordert. So einfach wäre das auch nicht in einem Land, das eben keine Diktatur ist, wie von Verschwörungstheoretikern behauptet, sondern ein Rechtsstaat.

Die Polizei will die Auflagen konsequent durchsetzen

Um zu verstehen, wie knifflig alles ist, hilft ein Gespräch mit Walther Michl; er lehrt an der juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität. Am Ende steht die Erkenntnis, dass die Corona-Demonstranten an einem langen Hebel sitzen. Michl beginnt und endet seinen juristischen Schnelllauf durchs Versammlungsrecht beim Grundgesetz, genauer: bei den eng verwandten Grundrechten auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Auf dieser Grundlage dürfen Anmelder von Demos den Ort frei wählen. Und weil es natürlich Zweck einer Demo ist, von möglichst vielen Menschen wahrgenommen zu werden, ist die Innenstadt für sie erste Wahl. Die Stadt, sagt Michl, hätte ihnen vergangene Woche statt des Marienplatzes nicht einfach einen Acker am Stadtrand zuweisen können; die Theresienwiese wäre, wenn sich der Anmelder sträubt, juristisch zumindest wacklig gewesen. Immerhin, das ist aktuell kein Streitpunkt, die Wiesn ist der Wunschort. Dort ist genügend Platz, zumindest theoretisch.

Doch Ärger droht auch hier, vor allem der Polizei, falls sich die Besucher nicht an die Auflagen halten. Der Zweck dieser Demo ist ja, genau gegen diese Restriktionen anzugehen. Nach den jüngsten Erfahrungen will die Polizei konsequent die Auflagen durchsetzen: Die Demofläche wird mit Gittern abgesperrt, sehr großzügig, sodass alle Teilnehmer, egal wie viele erlaubt sind, den Abstand einhalten können. An Zugangsstellen will die Polizei die eintretenden Demonstranten zählen, schon davor wird der Zulauf zur Wiesn kontrolliert. Ist die Obergrenze erreicht, will die Polizei absperren. Angebliche Spaziergänge von Personengruppen auf der Wiesn will die Polizei als Versammlungen werten und unterbinden; auch spontane "Eilversammlungen" würden nicht zugelassen, weil in der Vergangenheit immer wieder die Maximalzahl von 50 Personen überschritten worden sei. Kommen mehr Demonstranten, werde man sie zum Gehen auffordern, um Menschentrauben am Gitter zu verhindern, sagt Polizeisprecher Damian Kania. Man wolle viel reden mit den Leuten, einen "großen kommunikativen Einsatz" fahren, "in der Hoffnung, dass das reicht". Auf ein Druckmittel weist die Polizei schon vorab hin: Verstöße gegen das Abstandsgebot können Teilnehmer bis zu 500 Euro Bußgeld kosten, den Versammlungsleiter gar 5000 Euro.

An diesen Behörden-Hebel erinnert auch der LMU-Jurist Walther Michl: Es müsse denen finanziell weh tun, die auf die eigene Gesundheit und die unzähliger anderer pfeifen. Und dann wandert der Jurist weiter auf dem schmalen Grat für Behörden und Polizei: Wie weit darf die Polizei im Extremfall gehen, falls sich eine große Menge nicht ans Abstandsgebot hält oder andere, die abgewiesen werden, partout nicht gehen wollen? Juristisches Neuland, sagt der Jurist. Die sonst übliche breite Basis an Gerichtsentscheidungen fehle in Coro-Zeiten. Dazu komme, dass sich die Virus-Lage ständig ändert, und mit ihr die Corona-Verordnung. Vor vier, fünf Wochen, als vieles strikter war, wäre ein hartes Einschreiten eher zu rechtfertigen gewesen als heute.

Es müsse schon viel passieren, sagt Michl, um eine Demo aufzulösen. Die Frage der Verhältnismäßigkeit stelle sich, wie immer sei eine Abwägung nötig. So unvernünftig Abstandsmissachter auch sein mögen: Wirkt sich ihr Verhalten tatsächlich so stark auf das gesamte Infektionsgeschehen aus, dass es einen Demoabbruch rechtfertigt? Wie würden das hinterher die Gerichte bewerten? Eine von Richtern für rechtswidrig erklärte Demo-Auflösung würde die gesellschaftliche Konfrontation weiter anheizen. Nächste Frage: Was wäre, rein gesundheitlich betrachtet, wenn die Polizei mit Zwang auflöst? Wäre dabei das Ansteckungsrisiko nicht viel höher, als wenn man die Unvernünftigen einfach stehen ließe?

Zur rechtlichen und gesundheitlichen Dimension kommt noch die politische im Falle eines harten Eingreifens. Dann, sagt Michl, hätten die Verschwörungstheoretiker eines ihre Ziele erreicht: Es gäbe unschöne Bilder und damit vermeintliche Belege dafür, dass man in Deutschland nicht mehr frei seine Meinung äußern dürfe. Das alles macht diesen Samstag für die staatlichen Akteure so schwierig. Und dem Gerechtigkeitsempfinden der meisten Bürger dürfte es auch nicht guttun, falls wieder bewusst Corona-Regeln missachtet werden. Allein, genau dieses Spannungsfeld, sagt der Jurist Walther Michl, sei so angelegt in der Verfassung. Wenn wichtige Grundrechte stark eingeschränkt sind, wie seit Wochen etwa die Bewegungs- oder Religionsfreiheit, müsse zumindest noch der Protest dagegen möglich sein. "Das muss eine Demokratie aushalten", sagt Michl.

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SZ vom 16.05.2020
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