Süddeutsche Zeitung

Bunte Stadtgesellschaft:Bildung ist der Schlüssel

Lesezeit: 4 min

Die Informatikerin Nadia Miloudi hat Lerntreffs für Migranten in der Münchner Stadtbibliothek gegründet. Was mit einer Idee in Sendling begann, zieht sich inzwischen als Bewegung durch die ganze Stadt und bringt Einheimische und Fremde einander näher

Von Martina Scherf

Die kleine Frau mit dem weißen Kopftuch ist die Herrin in diesem Raum. Zumindest strahlt sie das aus, wenn sie von Tisch zu Tisch geht, hier etwas erklärt, dort korrigiert, jeden, der sich verabschiedet, fragt: "Und, kommst du nächste Woche wieder?" Das wirkt resolut. "Ach ja?", sagt sie überrascht, "na, dieses Projekt ist eben meine Leidenschaft." Nadia Miloudi hat die Deutsch-Lerntreffs in den Münchner Stadtbibliotheken gegründet und damit eine ganze Bewegung in Gang gesetzt. Vor 22 Jahren kam sie selbst als Fremde nach München. Jetzt gibt die Informatikerin anderen Starthilfe. Indem sie Flüchtlinge und Migranten beim Deutschlernen am Computer unterstützt.

Zehn Lernwillige haben sich an diesem Vormittag im Untergeschoss der Stadtbibliothek Sendling eingefunden. Sie kommen aus Afghanistan, Syrien, China. Die einen lernen erst das deutsche Alphabet, andere haben in der Heimat schon studiert und möchten schnell das Sprachniveau für eine deutsche Hochschule erreichen. Ein Syrer braucht Hilfe bei einem Behörden-Brief. "Warte bitte, ich komme nachher zu dir", sagt Nadia Miloudi auf Arabisch. Dass in der Bibliothek ein Raum entstanden ist, in dem Asylbewerber Deutsch üben und dringende Alltagsfragen los werden können, das ist der resoluten Frau mit dem Kopftuch zu verdanken.

In einem Wandschrank stehen sauber aufgereiht zwei Dutzend Laptops. Arabisch, Dari, Farsi oder Französisch - in mehr als 50 Sprachen sind darin Lernprogramme abrufbar. Jeder kann die Geräte zu den Bibliotheksöffnungszeiten ausleihen und selbständig üben. Zweimal in der Woche helfen ehrenamtliche Tutoren. "Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration", sagt Nadia Miloudi, die in Algerien geboren ist, "und ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen, um Deutsch zu lernen und die Deutschen kennen zu lernen als die Stadtbibliothek."

Längst ist die Bibliothek ja nicht mehr nur ein Ort für Gedrucktes. Es gibt Filme, Internet-Tutorials, Computerspiele. Auch hat die Stadtbibliothek ihr interkulturelles Engagement deutlich ausgebaut. "Die Stadtgesellschaft wird bunter und wir verändern uns mit ihr", sagt Arne Ackermann, Direktor der Münchner Stadtbibliothek. "Wenn München in den nächsten 15 Jahren um 150 000 oder gar 200 000 Menschen wächst, wie Prognosen ankündigen, dann braucht es nicht nur mehr Wohnungen und Nahverkehr, sondern auch mehr kulturelle Infrastruktur. Die Bibliothek vermittelt grundlegende Fertigkeiten: für alle, die neu kommen, und für jene, die längst angekommen sind und ihre Sprache und Kultur pflegen wollen."

"Ich möchte etwas zurückgeben"

Rami Al-Maskari (Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz) gibt jeden Freitag Computerkurse in einem Medienraum der Stadtbibliothek am Gasteig. Auch das gehört zum Bibliotheksalltag. Der 23-jährige Student der Wirtschaftsinformatik wusste schon als Fünftklässler, dass er später mal programmieren will. Als seine ältere Schwester dann einen Kurs beim Jugendprogrammier-Centrum München (JPCM) belegte, folgte er ihr bald nach. Jetzt unterrichtet er selbst Kinder und Jugendliche, ehrenamtlich. "Ohne die Kurse vom JPCM wäre mir der Einstieg ins Studium bestimmt viel schwerer gefallen. Deshalb möchte ich jetzt etwas zurückgeben. An den Schulen wird Informatik leider oft nicht in einer Weise unterrichtet, die das Interesse und den Spaß fördert." Er wünscht sich, dass mehr Mädchen auf das Programmieren aufmerksam werden. Je nach den Kenntnissen seiner Schüler bringt er ihnen verschiedene Programmiersprachen bei, etwa Visual Basic oder Java. Die Projekte reichen von einfachen Spielen bis zu professionellen Chat-Verschlüsselungen. Rami Al-Maskari ist in Erlangen geboren, sein Fränkisch kann er nicht ganz verbergen. Sein Vater kam als Student aus dem Oman und heiratete eine Deutsche. Rami möchte nach dem Master am liebsten promovieren und erst einmal in der Wissenschaft bleiben.

"Meine Biografie ist multikulturell"

Der Vater Schwede, die Mutter Deutsche, aufgewachsen ist Klarika Kolyadko (Foto: privat) in der Ukraine in den Karpaten, "mit einem Dialekt, der von fünf verschiedenen Sprachen beeinflusst ist". Heute spricht sie fünf Idiome fließend, wie sie sagt, und kann zudem alle slawischen Sprachen verstehen. "Ich bin durch und durch multikulturell", so fühle sie sich auch, sagt sie. Wer wäre besser geeignet als Leiterin eines internationalen Sprach-Cafés? Die 21-Jährige studiert Deutsch als Fremdsprache an der Ludwig-Maximilians-Universität und engagiert sich ehrenamtlich in der Bibliothek. Regelmäßig kommen Menschen aus verschiedenen Nationen, vom Studenten bis zum Rentner, alle wollen ihr Deutsch verbessern. Als Moderatorin gibt Klarika ein Thema vor und bereitet Fragen und Materialien dazu vor, das ist eine gute Übung für ihr Studium. "Es kann ums Essen gehen, um die Mehrsprachigkeit oder wir besprechen, wie man einen Lebenslauf schreibt", sagt sie. Einmal redeten sie über Stereotypen, die Nationen anhaften. Beim Thema Pünktlichkeit wurde es sehr lustig, erzählt sie: Da hatte jeder eine andere Version. "Das reichte von Deutschland, wo Pünktlichkeit super wichtig ist, über Italien bis Syrien, wo es den Begriff so gar nicht gibt." Der Austausch hilft, andere zu verstehen, nicht nur sprachlich.

"Es ist so schön in der Bibliothek"

Sow Sajallieu (Foto: privat) stammt aus Sierra Leone und kam vor einem Jahr nach Deutschland. Neben seiner Muttersprache Krio spricht er gut Englisch. Er wollte sofort mit dem Deutsch lernen beginnen, musste aber ein ganzes Jahr auf einen Kurs warten. Da war er glücklich, als er in seiner ersten Sammelunterkunft in der Karlstraße vom Angebot der Bibliothek erfuhr. "Ich versuche seither, so oft wie möglich zum Lerntreff zu gehen." Seit Sow, 24, in eine andere Unterkunft verlegt wurde, ist das nicht mehr so leicht. "Die U-Bahn-Tickets sind teuer, und mein Fahrrad wurde mir auch noch gestohlen", erzählt er. Aber seit kurzem darf er endlich vormittags einen Deutschkurs besuchen, freitags kommt er oft anschließend zum Üben in die Stadtbibliothek im Westend. "Die Atmosphäre dort ist so schön, die Tutoren ermutigen einen, zu fragen, wenn man was nicht versteht und verwickeln einen in kleine Gespräche". Die mobile App, die Asylplus bietet, wäre eine Hilfe, aber in der neuen Unterkunft gibt es kein Wlan, und ohne Wlan reicht das Datenvolumen nicht. "Das ist schade, mit der App könnte ich immer am Ball bleiben." Sajallieu träumt davon, bald ein Praktikum beginnen zu können. "Es wäre toll, wenn ich dann die Chance auf einen Ausbildungsplatz bekäme. Ich würde gerne im Einzelhandel oder mit Autos arbeiten."

Nadia Miloudi sieht das genauso. Als im vergangenen Jahr viele Flüchtlinge in München ankamen, da wollte sie helfen - nachhaltig. "Analog liegt mir nicht", sagt die studierte Informatikerin, "ich wollte etwas mit Sprache und Computern anbieten." Aber wie? Gemeinsam mit Martin Wallstein, dem Vater eines Schulfreundes ihres Sohnes, suchte sie nach passenden Programmen. Sie landeten bei Waltraud Haase in Bad Tölz und ihrem Verein Asyl plus. Er hat von Google Chromebooks gespendet bekommen, die er bundesweit an Helferkreise verleiht. Der Goethe-Verlag und die Deutsche Welle steuerten Lernprogramme bei, auch die Arbeitsagentur unterstützt das Projekt.

Nadia Miloudi hat eine eigene Webseite programmiert (learn-a-lot.de), zusammen mit Jenny Jennings, einer ihrer Unterstützerinnen. In Sendling fand der erste Lerntreff statt. Inzwischen gibt es Laptops in allen Stadtteilbibliotheken und Helferkreise an sechs Standorten. Tendenz steigend. Miloudi und ihre Unterstützer rekrutieren die Tutoren. So ist aus einer Idee eine Bewegung entstanden, die die ganze Stadt erfasst hat. Gerade wird ein Team für die Bibliothek Pasing gebildet. "Die Flüchtlinge müssen oft monatelang auf einen Deutschkurs warten, in ihren Unterkünften haben sie keine Computer und keine Ruhe zum Üben", sagt Nadia Miloudi. In der Bibliothek dagegen herrscht Stille. Die meisten tragen Kopfhörer, ab und zu sprechen sie leise ein deutsches Wort nach. Dass Miloudi Arabisch, Französisch und Deutsch spricht, ist eine große Hilfe.

Die Algerierin weiß noch genau, wie sich das damals anfühlte, als sie selbst Anfang der Neunzigerjahre neu in Deutsch- land war. Sie hatte ein Stipendium als Gastwissenschaftlerin für die Technische Universität München bekommen, war jung verheiratet. Ihren Mann ließ sie in Algerien zurück, doch wenig später erhielt auch er ein Stipendium - allerdings für Saarbrücken. "Das war nicht so schlimm, nach einem Jahr konnte er zu mir nach München ziehen", sagt Nadia Miloudi und lacht. Bildung hat oberste Priorität, diese Überzeugung galt in ihrer Familie schon immer. "Meine Mutter war Analphabetin, mein Vater einfacher Beamter, aber sie haben ihre Kinder alle aufs Gymnasium geschickt. Wir waren sieben Schwestern und vier Brüder, und bis auf einen haben alle studiert", erzählt sie mit gewissem Stolz.

Während sich das junge Paar dann in München einlebte, brach in Algerien der Bürgerkrieg aus. Die Miloudis hatten keine Ambitionen, in ein Land voller Gewalt und Zerstörung zurückzukehren. Sie fanden beide gute Jobs in München, bekamen zwei Kinder. Die Stadtbibliothek, sagt Nadia Miloudi, war in der Anfangszeit "unser zweites Zuhause und unser Schlüssel zur deutschen Kultur". Die Kinder nahmen an Lesewettbewerben, Bibliotheksnächten, Englischkursen teil, sie spielten Computerspiele, guckten Filme und liehen Bücher für ihre Referate aus. "Wir haben im Laufe der Zeit hier viele Menschen kennengelernt", sagt Miloudi. "Es macht mich glücklich, dass ich diese Erfahrung jetzt in den Lerntreffs weitergeben kann."

Ihr Handy klingelt. "Das ist mein Mann", sagt sie und drückt den Anruf weg, "ich rufe ihn nachher zurück." In diesem Moment ist es ihr wichtig, die Botschaft an die Öffentlichkeit zu bringen: Nutzt die Chancen, die sich euch bieten. "Ich möchte die Flüchtlinge motivieren und wachrütteln." Deshalb der resolute Ton. Sie möchte auch mehr Frauen dazu bringen, zu den Lerntreffs zu kommen, vielleicht lässt sich ja eine Kinderbetreuung organisieren, sagt sie.

Wer gut lernt und sich fit genug fühlt, den Deutschtest zu absolvieren, der für die Universität und viele Ausbildungen gefordert wird, der kann sogar das unter Aufsicht der Projektleiter in der Bibliothek machen. Es geht also nicht nur ums Vokabeln lernen, sondern auch um den Einstieg in die Gesellschaft. "Und neben dem Lernen entstehen hier auch Freundschaften - was will man mehr?", sagt Miloudi.

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Quelle:
SZ vom 26.10.2016
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