Süddeutsche Zeitung

Buch über Benachteiligte:Fremder Nachbarn Leben

Lesezeit: 3 min

Tiefe Solidarität prägt die Siedlung am Kiem-Pauli-Weg in Laim, wo benachteiligte Münchner wohnen. Das Buch "Neue Alte Heimat" porträtiert diese ungewöhnliche urbane Insel und ihre Bewohner

Von Andrea Schlaier

Zuletzt nannten sie Walter Massenhauser den Bürgermeister. Erst war es dem ehemaligen Pferdewirt "schnurzpieps-egal", was um ihn herum los war in dem abgewirtschafteten Block, in dem er krank und nach Zeiten der Obdachlosigkeit 2007 gestrandet war. Doch als der Aufzug in seiner Unterkunft, dem Thomas-Wimmer-Haus, ausfiel und ein nicht zu erwartendes Engagement der Nachbarn einsetzte, die allesamt entweder körperlich oder seelisch beeinträchtigt sind, da war's um ihn geschehen. "Imponiert" habe ihm diese Tatkraft, sagte Walter Massenhauser. Womöglich auch, weil sie Menschen an den Tag legten, die ähnlich ausgelaugt und entkräftet waren von den Enttäuschungen und Entbehrungen des eigenen Lebens. Walter Massenhauser jedenfalls wurde von diesem Teamwork regelrecht gepusht. Er legte los, wo immer Unterstützung gebraucht wurde. Dass der Lift wieder durch die Stockwerke ruckelte und gar ein neuer dazu kam, ist auch seinem Einsatz zu verdanken.

Offenherzige Einblicke in fremder Nachbarn Leben wie dieser, in einen Kosmos, der vielen im 25. Stadtbezirk noch erstaunlich unbekannt ist, bietet ein bemerkenswertes Buch, das soeben erschienen ist: "Neue Alte Heimat - Porträt einer sozialen Siedlung" heißt es. Herausgeberin ist das Jane Addams Zentrum e.V. und damit die Frauen, die die Bewohner der Siedlung im äußersten Osten Laims seit 2012 begleiten und unterstützen bei einem Wandel, der vielen der 900 Mieter zunächst wie ein bevorstehendes, existenzbedrohendes Beben schien: die groß angelegte Sanierung der städtischen Wohnanlage, die rund um den Kiem-Pauli-Weg in reichlich Grün eingebettet ist. Als eine Art Herbergsdorf für rückkehrwillige, ausgebombte Münchner wurde sie in den 1960er Jahren mit Spenden der Mitbürger errichtet. Noch heute leben hier qua Satzung vorwiegend ältere Menschen, körperlich wie geistig Behinderte und inzwischen auch junge Migrantenfamilien. Keiner von ihnen, und das ist die gemeinsame Klammer, verfügt über ein üppiges Budget.

Im Juli 2015 hat der Stadtrat beschlossen, die Siedlung, zu der auch das Thomas-Wimmer-Haus an der Burgkmairstraße gehört, zu sanieren und zu erweitern. Ein entsprechendes Konzept entwickelten Kommunalreferat und städtische Wohnungsbaugesellschaft Gewofag zusammen mit der Bewohnervertretung Alte Heimat Arbeitskreis (AHA).

"Ein tief solidarischer Kern" präge die Siedlung, sagt Lena Kruse, die das Buchprojekt im Auftrag des Jane-Addams-Zentrums leitete. Und den schält sie auf 180 Seiten auch heraus. Aufgeführt sind der Reihe nach die vielen Handelnden, Initiativen, Einrichtungen und städtischen Instanzen, die den Mietern sowohl im Alltag als auch in der Ausnahmesituation des Wandels Hilfe leisten oder sie zur Selbsthilfe befähigen. Das Herzstück bildet gleichwohl die biografische Perspektive einzelner Mieter auf ihren Lebensraum. Wie durch ein Brennglas scheint hier der Teil der Stadtgesellschaft auf, der den Glanz der reichen Metropole oftmals nur von ihrer Kehrseite aus zu sehen kriegt. Und gleichzeitig ist dokumentiert, wie sich die Nachbarn in den vergangenen Jahren durch die Notwendigkeit des Gewandelt-Werdens zu einer Gruppe fügen. Leute, die oft keine Übung darin haben, ihre Bedürfnisse mit Nachdruck bei Institutionen zu verhandeln.

Keimzelle dieses inneren Wandels, der die Entstehung einer gefühlten Gemeinschaft erst ermöglichte, ist Hester Butterfield, Vorsitzende des Jane-Addams-Zetrums, das in der "Neuen Alten Heimat" Träger des Nachbarschaftstreffs ist und etwa die Bewohnervertretung Alte Heimat Arbeitskreis (AHA) angestoßen hat. Die Sozialmanagerin und Dozentin an der Stiftungsfachhochschule München hat die Bewohner nicht nur zu bürgerschaftlichem Engagement ertüchtigt, sondern zeitweise auch ihre Studentinnen durch die Anlage geschickt, um überhaupt einmal herauszukriegen, wer hier wohnt und mit welchen Bedürfnissen. "Entdeckt" hat sie dabei unter anderem eine Gruppe von Hörgeschädigten, die von den Informationen über den Umbau der Siedlung noch nichts mitbekommen hatten, weil zunächst keine Gebärdendolmetscher zur Verfügung standen, die bei regelmäßig stattfindenden informellen Bau-Runden übersetzten.

Sie sind längst auch aktiver Teil der "Community" wie viele andere, die im Buch aus ihrem Alte-Heimat-Leben erzählen: "Christel", die im Rollstuhl sitzt und sich einen Zugang zur nicht barrierefreien Wohnung über die eigene Terrasse ausgehandelt hat, der junge Afghane Hassan Ali Djan, der zunächst auf Skepsis in der Nachbarschaft stieß, "Frau O.", ehemals Vorzimmerdame eines Bankers, die das monatliche Frühstück der alten Heimat mitorganisiert, Talib Arabi, 86 Jahre, der den Mitbewohnern beim Formulieren von Briefen hilft. Und Walter Massenhauser. Sein Porträt blieb im Buch. Der Bürgermeister ist im Juli gestorben.

In der Zusammenschau wird nichts ins Gefällige gebürstet. Vielmehr liefert sie ein lebensechtes und aufschlussreiches Porträt einer urbanen Insel - auch am Randes eines Viertels. Und sie sät Zuversicht. Weil hier Gemeinsinn in schwieriger Lage generiert und kultiviert wird.

Neue Alte Heimat - Porträt einer sozialen Siedlung, Hrsg.: Jane-Addams-Zentrum e.V., ISBN 9783746010984, für 10 Euro im Buchhandel

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3769580
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 29.11.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.