Süddeutsche Zeitung

Aktuelles Lexikon:Zeitgeist

Eine Erscheinung, von der sich der emeritierte Papst nun Entlastung erhofft.

Von Meredith Haaf

Neben dem Teufel ist es vornehmlich der "Zeitgeist" der frühen Achtzigerjahre, den Benedikt XVI. in schriftlichen Ausführungen für die Missbrauchsfälle und ihre mangelnde Aufklärung in der katholischen Kirche verantwortlich macht. Dieser gesellschaftsdiagnostisch übliche Verdächtige etablierte sich im späten 20. Jahrhundert in der Alltagssprache. Dass der Raum von Geistern beseelt sei ("Genius Loci"), ist eine Vorstellung aus dem frühen Christentum. Johann Gottfried Herder verwendete im 18. Jahrhundert als Erster das Wort "Zeitgeist", und beschrieb ihn als Wirkmacht auf Individuum und Gemeinschaft. Sie ergebe sich aus den moralischen, geistigen, ästhetischen Werten, Idealen und Zielen innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Seit Herder wird der Zeitgeist als Erklärung für problematisches Verhalten der Zeitgenossen herangezogen. Hans Magnus Enzensberger stellte fest, nichts sei "bornierter". Joseph Ratzinger wiederum bezieht sich auf die Liberalisierung der Sexualmoral seit 1968, die außerehelichen oder auch gleichgeschlechtlichen Sex normalisierte und von der Kirche immer abgelehnt wurde. Diese habe die Verharmlosung des Missbrauchs durch die Kirche bewirkt. Eigene Verfehlungen mit äußeren Zwängen wegzuerklären, ist wiederum eine Strategie, die ihrerseits selbst einem gewissen Zeitgeist entspricht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5512488
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.