Süddeutsche Zeitung

Schoah:Die Frau, die stärker ist als das Vergessen

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Lotte Brainin hat zwei Konzentrationslager und zwei Todesmärsche überlebt. Was die heute 100-Jährige gesehen und erlebt hat, das hat sie ihr Leben lang heimgesucht - genau deshalb wollte sie stets darüber sprechen.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Lotte Brainin bezeichnet es als "Zufall", dass sie am Leben geblieben ist. Ihr Mann Hugo spricht von einem "Wunder", dass sie an diesem Donnerstag hundert Jahre alt wird. Denn Lotte Brainins Leben, so beschreibt sie es selbst, hätte enden können an der Rampe am 17. Januar 1944, als sie im KZ Auschwitz-Birkenau ankam und nicht in der Gaskammer landete, wie ihre Mutter Jetti einige Monate später. Oder es hätte ihr ein Jahr später die Kraft ausgehen können beim Todesmarsch oder dann im KZ Ravensbrück. Ihr Vater Maurycy starb im KZ Buchenwald. Viele wären daran zerbrochen, aber Lotte Brainin hat überlebt.

Als Tochter von ukrainischen Flüchtlingen wurde sie in Wien geboren. Früh schloss sie sich einer sozialistischen Jugendorganisation und dem Widerstand gegen die Nazis an. Nach dem "Anschluss" Österreichs ans Deutsche Reich war sie als Jüdin und Sozialistin doppelt gefährdet und floh, mit gerade einmal 18 Jahren, über Köln und Aachen nach Belgien. Auch dort schloss sie sich einer Widerstandsgruppe an und wurde nach der Übergabe einer Antikriegszeitung 1943 verhaftet. Nach schwerer Folter bei der Gestapo und Monaten in einer Einzelzelle kam sie nach Auschwitz-Birkenau. Dort überstand sie drei Selektionen.

Trotz der Gefahr gehörte Lotte auch im KZ einer Widerstandgruppe an und war am Versuch beteiligt, eines der Krematorien zu sprengen. Den Sprengstoff hatten Häftlinge aus einer Munitionsfabrik geschmuggelt. Als Ende 1944 die Sowjetarmee vor Auschwitz stand, versuchte die SS, das Lager zu räumen und Aufzeichnungen zu vernichten. "Berge von Papier lagen zwischen den Blocks auf den Wegen. Man watete förmlich durch Papier. Wir waren voller Freude, dass das Ende unserer Qualen gekommen war. Wir ahnten nicht, was uns alles auf dem Todesmarsch und bis zur endgültigen Befreiung noch erwarten würde", schreibt sie in ihren Erinnerungen.

Am 18. Januar 1945 wurden die Lagerinsassen hinaus in den Schnee getrieben. Tagelang marschierten sie, wer erschöpft zurückblieb, wurde erschossen. Verpflegung gab es keine, der Durst wurde mit Schnee gestillt. Als sie im KZ Ravensbrück ankamen, waren die Frauen ausgehungert und fast erfroren. In den Wirren, als die Front näher rückte und die Frauen zu einem neuerlichen Todesmarsch aus dem Lager getrieben wurden, konnte Lotte mit einer Freundin in einen nahe gelegenen Wald flüchten und sich dort verstecken - bis zur Befreiung des Lagers durch sowjetische Soldaten am 1. Mai 1945.

Was sie gesehen und erlebt hat, das hat Lotte Brainin auch später heimgesucht. Anders als viele Überlebende der Schoah konnte und wollte sie aber über ihre Erlebnisse sprechen - auch in der Familie. Es ist kein Zufall, dass ihre beiden Töchter Elisabeth und Marianne Psychotherapeutinnen wurden und als Expertinnen für posttraumatische Belastungssyndrome arbeiten. Ihr Mann Hugo war 1938 nach Großbritannien geflüchtet und hatte dort überlebt.

Nach der Rückkehr nach Österreich 1945 erlebten beide wiederholt Antisemitismus. Sie traten bis ins hohe Alter als Zeitzeugen in Schulen auf - um gegen das Vergessen anzukämpfen. Seit mehreren Jahren ist Lotte Brainin bettlägrig. Statt des geplanten Festaktes zum Geburtstag gibt es wegen der Pandemie eine virtuelle Ausstellung mit Gratulationen des aktuellen und des früheren Bundespräsidenten, Alexander Van der Bellen und Heinz Fischer.

Zu Wort meldet sich in einem fünfminütigen Video auch die Schriftstellerin Elfriede Jelinek. Die öffentlichkeitsscheue Nobelpreisträgerin stellt sich selbst in ihrem berührenden Beitrag "stolz", wie sie sagt, als angeheiratete Verwandte, als "Tochter" der Familie vor. Über Lotte Brainin sagt die wortmächtige Autorin: "Sie hat mir Dinge über das KZ erzählt, die ich nicht über die Lippen bringen würde. Und aufschreiben geht auch nicht."

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