Süddeutsche Zeitung

Polen und Ungarn:Es brennt lichterloh

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Die Einigung auf den Rechtsstaatsmechanismus ist vor allem eines: ein Desaster für alle Polen und Ungarn, die seit Jahren verzweifelt auf die Hilfe der EU warten.

Von Florian Hassel

Gewiss, es weiß niemand, ob Historiker, wenn sie dereinst die Geschichte der Europäischen Union schreiben, die Einigung vom 10./11. Dezember mit der Einführung eines Rechtsstaatsmechanismus als Meilenstein werten werden. Für Polen und Ungarn von heute allerdings, die seit Jahren vergeblich hoffen, die EU möge endlich etwas Handfestes unternehmen, um ihren Rechtsstaat wiederherzustellen oder noch stehende Reste zu retten, ist diese Einigung ein Desaster. Es ist, als ob ein Haus in Flammen stünde, aber die ohnehin verspätet und aus verschiedenen Orten angerückten Feuerwehren sich darauf einigen, doch lieber erst in ein paar Jahren mit dem Löschen zu beginnen.

Seit Ende 2015 ist in Polen eine Säule einer unabhängigen Justiz nach der anderen rechtswidrig umgestürzt worden: vom Verfassungsgericht über den für die Auswahl von Richtern und Staatsanwälten zuständigen Landesjustizrat KRS (der seitdem Hunderte linientreuer Richter rechtswidrig ernannte) über Justizschulen und Dutzende ausgetauschter Gerichtspräsidenten bis zum Obersten Gericht. Dort urteilen nun Sonderkammern, die jeden Juristen disziplinieren und selbst rechtskräftige Urteile aufheben können - was die Experten der Venedig-Kommission zu Recht an sowjetische Unrechtsjustiz erinnert. Im zentralen Fall des Verfassungsgerichts hat die EU-Kommission bis heute nichts unternommen, in anderen Fällen zu wenig und zu spät. Jahrelang ließ Brüssel das einzige scharfe Messer in seinem Besitz ungenutzt: schnelle Klagen vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH ), bei Nichtbefolgen des Urteils gefolgt von Anträgen auf millionenschwere tägliche Bußgelder.

Der Kompromiss kommt zu spät und ist zu verwässert

Am 8. April 2020 endlich verbot der EuGH einer rechtswidrigen Disziplinarkammer, die jeden Richter, Staatsanwalt und andere Juristen feuern kann, jede weitere Tätigkeit. Warschau schert sich bis heute nicht darum. Hätte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Sommer beim EuGH beantragt, millionenschwere tägliche Bußgelder zu verhängen, wäre derlei schon in den Jahren zuvor versucht worden - der Rechtsstaat hätte in Polen vielleicht eine Überlebenschance gehabt.

Der Rechtsstaatsmechanismus kommt jetzt spät, durch die Verwässerungen in letzter Minute auf jeden Fall zu spät: Denn zuerst dürfen Polen und Ungarn gegen den zuvor jahrelang von Juristen geprüften Mechanismus beim EuGH klagen. Erst nach einem Urteil darf die EU-Kommission überhaupt Richtlinien zur - obendrein viel zu eng gefassten - Anwendung beschließen. Tut sie dies endlich, folgen erst erneuter Dialog und weitere Besprechung durch die Staats- und Regierungschefs.

Jegliche Anwendung ist so Jahre entfernt. Jahre, in denen Polens faktischer Regierungschef Jarosław Kaczyński sowie Justizminister-Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro die letzten Überreste des Rechtsstaats ohne Gefahr für sich abmontieren werden. So ist die Staatsanwaltschaft etwa gerade dabei, sich Zugriff auf sämtliche Richterakten zu verschaffen; mehrere noch unabhängige Richter wurden nach haarsträubenden Vorwürfen suspendiert. Bis in einigen Jahren im Rahmen des Rechtsstaatsmechanismus - möglicherweise - erste Entscheidungen gegen Polen und Ungarn fallen, sind die Regierungen Kaczyński-Ziobro oder Orbán im schlimmsten Fall schon wieder im Amt bestätigt. Im besten Fall sind sie abgewählt. Die Zeche müssen dann nicht sie, sondern ihre Nachfolger zahlen.

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