Süddeutsche Zeitung

Anschlag in Norwegen:Restrisiko Mensch

Lesezeit: 2 min

Der Wunsch, jene psychisch Kranken zu erkennen, die zu Gewalttätern werden könnten, ist verständlich, aber eine Illusion.

Kommentar von Werner Bartens

Wann immer irgendwo auf der Welt eine furchtbare Gewalttat geschieht, so wie am Mittwoch in Norwegen, verläuft die öffentliche Diskussion in ähnlichen Bahnen: Ist der Mord oder das Attentat besonders grausam, wird ebenso vorschnell wie absehbar eine psychische Erkrankung des Täters ins Spiel gebracht. Es könne schließlich nicht sein, dass ein "normaler" Mensch zu so etwas fähig ist. Spoiler: Doch, kann es.

Sodann folgt die Debatte über den angemessenen Umgang mit psychisch Kranken. Erzkonservative Kreise fordern: Wegsperren plus Sicherungsverwahrung. Die Radikalliberalen erinnern an frühere (und gescheiterte) Reformideen der Psychiatrie, die entsprechenden Kliniken aufzulösen, schließlich seien wir ja alle mehr oder weniger gaga, respektive verrückt. Die jeweilige Gesellschaft bestimme, wer dazugehört und wer nicht, deshalb seien etwaige Außenseiter noch lange nicht krank. Wer gemäßigt und besonnen argumentiert, wünscht sich dringend mehr Präventionsprogramme und Therapieplätze, um früh zu erkennen, welcher psychisch Kranke aus seiner fragilen Balance gerät und zu einer selbst- oder fremdgefährdenden Bedrohung wird.

Mehr Therapieplätze? Das hilft leider auch nicht

Genau dieser Wunsch ist eine Illusion. Zwar erkennen Therapeuten, Psychologen und Psychiater unmittelbar im Gespräch und in der klinischen Untersuchung durchaus, wenn ein psychisch kranker Patient "dekompensiert", wie es in der Fachsprache heißt, und zur Gefahr wird. Dann nehmen Wahnvorstellungen zu, und die Fantasien, wie man sich oder andere zu schädigen beabsichtigt, werden konkreter. Das Problem besteht aber darin, dass es Ärzte und Therapeuten nur selten einen Tag vorher von den Kranken erzählt bekommen, dass ihre friedliche Existenz nun plötzlich beendet ist und sie ein Blutbad planen. So engmaschig verlaufen keine Therapie und kein Kontakt.

Mehr ambulante wie stationäre Therapieplätze und kürzere Wartezeiten würden daran wenig ändern. Es ist unmöglich und gelingt oft nur zufällig, die Radikalisierung eines psychisch Kranken zu erkennen, der zur Gefahr für sich oder andere wird. Auch bei jenen, die bereits in psychiatrischer Behandlung sind und als ungefährlich gelten, kann sich dies in wenigen Tagen ändern. Wenn ein Mensch abgleitet und dem engeren Umfeld vor der eigentlichen Tat durch irritierende Äußerungen und Handlungen auffällt, sodass eine akute Bedrohungslage entsteht, gibt es ein Netz aus Therapeuten, Krisenteams und psychiatrischen Notaufnahmen für die Akutintervention. Wer sich isoliert oder in der Krankheit vereinsamt, der wird hingegen nicht entdeckt - oder zu spät. Das Restrisiko Mensch bleibt, Schuldzuweisungen an "die Politik" oder die medizinischen Fachdisziplinen sind fehl am Platze. So berechenbar ist kein Kranker (und auch kein Gesunder), so perfekt kein Gesundheits- und Sozialsystem, dass psychisch motivierte Gewalttaten garantiert auszuschließen wären.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5440537
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.