Süddeutsche Zeitung

Lexikon:Fliegender Pfeiler

Für die Baumeister der Gotik ein wichtiger statischer Kniff, für Großbritanniens Premier Boris Johnson die Rolle seines Landes.

Von Jan Bielicki

Mit einem Haus wurde Europa schon oft verglichen, über dessen Architektur gibt es unterschiedliche Ansichten: Gleicht es nun einer Festung oder Londons chaotischem Flughafen Heathrow? Boris Johnson, dessen Wahlkreis sich dort gleich nebenan ausbreitet, hat andere Bauwerke im Kopf: Der britische Premierminister hat Europa nun mit einem Gotteshaus verglichen. Sein England sei dabei jedoch seit dem Brexit kein fester Baustein mehr, sondern wie der flying buttress einer gotischen Kathedrale. Wörtlich lässt sich der englische Fachbegriff mit "fliegender Pfeiler" übersetzen, deutsche Kunsthistoriker verwenden dafür meist das vergleichsweise schnöde Wort "Strebewerk" - was die Eleganz, die dieses architektonische Element vor allem gotischen Kirchenbauten verleiht, deutlich weniger widerspiegelt. Dieses hat eine im Wortsinne tragende Funktion: Die außen angebrachten Strebebögen leiten das gewaltige Gewicht und den Schub von Dach und Gewölbe des hohen Mittelschiffs und Chors einer Basilika auf Strebepfeiler oder eine Strebemauer ab. Dieser bautechnische Kniff, bereits den Römern bekannt, erlaubte es den Kathedralen-Baumeistern des 12. Jahrhunderts, anstelle massiver Wände filigrane, von riesigen Fensterflächen durchbrochene Konstruktionen in enorme Höhen zu ziehen. Das Kircheninnere wird dadurch zu einem offenen, lichtdurchfluteten Raum. Für Leute, die sich davon hinreißen lassen, scheint der ganze Bau zu schweben.

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