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UN-Klimakonferenz in Madrid:Warum es für "Klimaneutralität" starke Regeln braucht

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Was "neutral" ist, kann dem Klima ja nicht schaden. Oder doch? Der Handel mit Emissionszertifikaten kann dazu führen, dass sich reiche Länder freikaufen.

Kommentar von Michael Bauchmüller, Madrid

Das große neue Ziel im Kampf gegen die Erderwärmung heißt "Klimaneutralität". Es ist ein Begriff wie aus dem Lexikon der Polit-PR, auch die Kanzlerin führt ihn neuerdings im Munde. Was "neutral" ist, kann ja dem Klima nicht schaden. Oder etwa doch?

Leider ist diese Neutralität auch eine Frage kreativer Buchführung. Was dereinst noch an Emissionen in Industrieländern anfällt, soll sich anderweitig kompensieren lassen. Das ist per se nichts Schlechtes, nur lädt es zu allerlei Tricksereien ein. Über die Grundlagen dieser Verrechnung sollen diese Woche die Ministerinnen und Minister beim Klimagipfel in Madrid entscheiden. Schlimmstenfalls legen sie das Fundament für Bilanztricks, die das Klimaabkommen von Paris aushöhlen, statt es zu stärken.

Die Methode dahinter kommt ebenfalls unter einem harmlosen Begriff daher: "Marktmechanismen". Wer in Klimaschutzprojekte im Ausland investiert, soll deswegen Zertifikate erhalten können, die er dann wiederum verkaufen kann - etwa an Industriestaaten, die beim Klimaschutz nicht recht vorankommen. Tonne für Tonne Kohlendioxid lässt sich so "neutralisieren".

Die Philosophie dahinter klingt einleuchtend. Es ist schließlich egal, wo das Klima geschützt wird. Wenn es günstiger ist, Emissionen in Ghana zu vermindern statt in Deutschland - was spricht schon dagegen?

Doch weder ist die Sache so einfach, noch nutzt sie zwangsläufig dem Klima. Denn letztlich sind alle diese Deals Nullsummenspiele. Im besten Fall stecken hinter den Zertifikaten tatsächlich Klimaschutzprojekte, etwa eine sanierte Mülldeponie, ein aufgeforsteter Wald, ein stillgelegtes Kohlekraftwerk. Dann sorgen aber genau diese Zertifikate dafür, dass ein anderes Land seine Klimaziele nicht selbst erreichen muss. Vereinfacht gesagt: Das stillgelegte Kohlekraftwerk in X lässt das Kraftwerk in Y weiter laufen. In der Klimabilanz von Y taucht es nicht mehr auf. Diese Bilanz ist neutralisiert, oder vielleicht besser: frisiert.

Und das ist noch der beste Fall. Unter dem Kyoto-Protokoll gab es auch schon solche Mechanismen, sie regten aber weniger den Klimaschutz an als die Fantasie von Investoren. Treibhausgasintensive Fabriken wurden eigens errichtet, um sie anschließend zu schließen - und so Zertifikate zu erzeugen.

"Marktmechanismen" könnten das Engagement für Klimaschutz schwächen

Bis heute kursieren aus dieser Zeit CO₂-Gutschriften, mit denen sich die EU locker zwei Jahre lang klimaneutral machen könnte. Es besteht sogar die Gefahr, dass sie in das Paris-System übertragen werden. Auch eine doppelte Anrechnung ist noch nicht vom Tisch: Das stillgelegte Kohlekraftwerk könnte damit sowohl in Land X als auch, über Zertifikate, in Y die Bilanz zieren.

Ob es so kommt, entscheidet sich in dieser Woche in Madrid. Starke Regeln könnten die schlimmsten Auswüchse verhindern. Doch es droht eine unheilige Allianz aus Entwicklungs- und Schwellenländern, die in den Zertifikaten eine hübsche Einnahmequelle sehen, und Industriestaaten, die damit ihre maue Klimabilanz bessern wollen. Womöglich lassen die "Marktmechanismen" ihr Engagement für aktiven Klimaschutz sogar erlahmen, lässt sich die "Klimaneutralität" so doch erkaufen.

Das Abkommen von Paris, vor vier Jahren noch als großer Durchbruch gefeiert, würde so ad absurdum geführt. Die Wahl für Madrid ist damit einfach: Lieber gar kein Marktmechanismus als ein mieser.

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Quelle:
SZ vom 09.12.2019
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