Süddeutsche Zeitung

Tunesien:Adieu Demokratie

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Präsident Kais Saied lässt die moderne Verfassung durch eine Mischung aus Basisdemokratie und präsidialer Allmacht ersetzen. Die Wahlbeteiligung liegt bei gerade einmal 28 Prozent. Das ist erschreckend - und birgt doch einen Funken Hoffnung.

Kommentar von Mirco Keilberth

Mit mehr als 90 Prozent Ja-Stimmen hat der tunesische Präsident am Montag die letzte Hürde seines Basisdemokratie-Projektes genommen. Direkt nach der Verkündung der Wahlergebnisse tritt eine Verfassung in Kraft, mit der die parlamentarische Verfassung durch eine eigentümliche Mischung aus präsidentieller Allmacht und Lokalräten ersetzt wird. Die seit der französischen Kolonialzeit vernachlässigten Regionen werden künftig in einem Zwei-Kammer-System vertreten sein, deren Vertreter von lokalen Kommissionen bestimmt werden. Die nach der Revolution von 2011 entstandenen politischen Parteien sollen keine große Rolle mehr spielen.

Was nach Basisdemokratie klingt, ist aus Sicht der Kritiker die Rückkehr zu einem autokratischen System. Denn Justiz und Regierung unterstehen dem Präsidenten, und in den marginalisierten Gegenden kämen gerade jene an die Macht, gegen die Saied so lautstark vorgeht: Schmuggler, ruchlose Geschäftsleute oder Islamisten haben die Leerstelle, die der Staat hinterlassen hat, längst für sich genutzt.

Wenn es nur ein Verfassungsgericht gäbe

Saied hält dagegen und entsendet 3000 Beamte in die Regionen, die dem Präsidentenpalast in Karthago persönlich unterstehen. Das ist ähnlich undemokratisch wie das überstürzt abgehaltene Referendum selbst. Gäbe es ein Verfassungsgericht in Tunesien, es hätte Saieds Projekt wohl kassiert.

Man kann darüber staunen, wie leichtfertig die Tunesier das bisher Erreichte aus der Hand geben. Der Friedensnobelpreis für das sogenannte Dialog-Quartett von 2015 schien der Beweis zu sein, dass der schnelle Übergang zur Demokratie auch in der arabischen Welt möglich ist. Internationale Organisationen unterstützen daher die so aktive Zivilgesellschaft und den Reformprozess mit Millionen Dollar. Der Sieg des 64-jährigen konservativen Populisten Saied ist für viele Menschenrechtler in Tunis eine herbe Enttäuschung.

Von der Demokratie, so sagen die Leute, kann man sich nichts kaufen

Doch die Mehrheit der Tunesier klagt, dass bei ihnen all die im Westen gepriesenen Fortschritte nie angekommen sind. Von einem Friedensnobelpreis und Demokratie könne man sich nichts kaufen, hört man oft in verarmten Orten wie Kasserine oder Sidi Bouzid. Dort, wo der Selbstmord des Studenten Mohamed Bouazizi vor elf Jahren den Arabischen Frühling auslöste, gilt wie im ganzen Land wegen der Gefahr durch Islamisten ein Ausnahmezustand. Der Polizei ermöglicht dies, willkürlich und brutal gegen Kritiker, Homosexuelle und alle vorzugehen, die sich gegen die allgegenwärtige Korruption wenden.

Weil die Menschen den Staat nur in Form von korrupten Polizisten, Lehrern oder Beamten kennengelernt haben, ist die Mehrheit am Montag gar nicht erst wählen gegangen. Nur 28 Prozent gaben ihre Stimme ab. Doch diese geringe Wahlbeteiligung birgt auch einen Funken Hoffnung: dass der 25. Juli nur eine Episode in einem Übergangsprozess ist, der nach 75 Jahren Kolonialzeit und drei Jahrzehnten Diktatur eben etwas mehr Zeit braucht. Dabei erwies sich für Tunesien der Titel als Vorzeigeland des arabischen Frühlings eher als Bürde denn als Ansporn. Der Titel lenkte den Blick auf kleine Erfolge, während die alten Eliten weiterhin ihre Wirtschaftskartelle absicherten und die Parteien ihre Klüngelwirtschaft weiterführten. Die Demokratie brachte außer Redefreiheit bisher keinen grundlegenden Wandel.

Kais Saied hat dies offengelegt und wurde so zu einer Symbolfigur. Aber auch von ihm werden die Menschen schon bald Wirtschaftsreformen und ein besseres Leben einfordern.

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