Süddeutsche Zeitung

Islamismus:Ein Tweet löst gar nichts

Lesezeit: 2 min

Extremistische Taten werden nicht durch lautes Geschrei oder betontes Schweigen verhindert, sondern durch Resozialisierungsarbeit. Aber für die gibt es keine 4000 Likes.

Von Detlef Esslinger

Manche Fragen sind so formuliert, dass sie die mitgemeinte Antwort bereits enthalten. "Warum ist dieser islamistische Syrer nach Verbüßung seiner Haftstrafe nicht in Sicherungsverwahrung genommen oder abgeschoben worden?", fragt Friedrich Merz in einem Tweet. Er mag damit vielen Menschen sogar aus der Seele sprechen, und es ist ja auch schwer zu fassen: Ein junger Mann aus Syrien, der in Deutschland Schutz gefunden hat, dankte es dieser Gesellschaft zunächst, indem er hier für den IS warb sowie Menschen bedrohte und verletzte - und fünf Tage nach Entlassung aus der Haft in Dresden auf zwei Männer einstach; einer von ihnen starb.

Normalerweise würde dieser Fall das Land aufwühlen. Normalerweise würde die nun entstehende Debatte erneut all die Emotionen wecken, die selbstverständlich in vielen Leuten schlummern. Dass es dazu nicht kommt, dass auch die Enthauptung des Lehrers in Frankreich die Menschen hierzulande vergleichsweise wenig beschäftigt hat, liegt nur an einem einzigen Umstand - Corona. Die hohen Ansteckungszahlen, die Angst vor einem zweiten Lockdown; das ist derzeit das Megathema, und wie es mit Megathemen immer ist: Sie greifen sich alle Aufmerksamkeit.

Aber ein Problem bleibt da, auch wenn es gerade nicht breit diskutiert wird. Zweierlei ist daher gefährlich: zum einen, wenn es auf der linken Seite des Spektrums kleingeredet wird. Nach dem islamistischen Verbrechen in Frankreich sprach Kevin Kühnert vom "unangenehm auffälligen Schweigen" im linken Milieu. Zum anderen ist das, was von konservativer Seite zu hören ist, kaum besser. Wenn Merz und andere "Sicherungsverwahrung!" oder "Abschieben nach Syrien!" rufen, klingt das zwar nach Tatmensch, ist in Wahrheit indes nicht mehr als getweetete Kompetenzsimulation. Das Beschweigen wie das Gerufe helfen langfristig eher nur jenen, die sich von jedem Messerstecher insgeheim einen politischen Vorteil erwarten.

Abschieben wäre wahrscheinlich selbst dann keine Lösung, wenn die Innenminister den Abschiebestopp nach Syrien aufhöben und ein Flugzeug zudem eine Landeerlaubnis in Damaskus bekäme. Da es in Syrien keine Gegend gibt, in die man ohne Gefahr für Leib und Leben zurückkehren könnte, würde sich jeder Abschiebekandidat wahrscheinlich mit Erfolg vor den Gerichten dagegen wehren. "Sicherungsverwahrung" wäre zwar eine Sanktion, die in diesem Fall verhindert hätte, dass der 20-jährige Syrer am 4. Oktober mit dem Messer in Dresden unterwegs sein konnte. Aber eines fernen Tages wäre er dennoch freigekommen. Relativ gewiss, dass dann andere Menschen Opfer seines Extremismus, seiner Aggressionen geworden wären.

Islamismus ist heute (wie der Rechtsextremismus) ein Phänomen, das Leben bedroht. In Gefängnissen, auch im Jugendvollzug, dominieren Subkulturen, in denen Radikale oft noch radikaler werden. Wer die Gefahr bannen will, der vermeidet um alles in der Welt, dass Verurteilte lediglich ihre Zeit absitzen, bis zum letzten Tag - und dann als derart gefährlich eingestuft werden müssen, dass man sie behelfsweise unter Führungsaufsicht stellt, wie den mutmaßlichen Täter von Dresden. Es gibt etliche Fachleute und Konzepte, um während des Strafvollzugs "Bindungen für das Leben danach" zu organisieren, wie Bernd Maelicke, der Nestor auf dem Fachgebiet Resozialisierung, dies nennt. Spektakulär ist diese Arbeit nicht. Mit Forderungen danach hat noch niemand 4000 Likes bei Twitter erzielt. Aber geht es nicht allen darum, ein Problem zu lösen?

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5090777
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.