Süddeutsche Zeitung

"Wunderbare Jahre" auf Disney+:Great again

Lesezeit: 4 min

Die Neuauflage der legendären Serie "Wunderbare Jahre" erzählt von einem Teen of Color in den USA nach 1968.

Von Jürgen Schmieder

Es gibt eine Szene in dieser ersten Folge von Wunderbare Jahre, die möge bitteschön in der nächsten Award-Saison sämtliche Preise kriegen. Inhalt, Timing, Tempo: Alles stimmt. Gemeint ist der Moment, in dem der damals zwölf Jahre alte Junge auf seinem Rad durch diese Kleinstadt im US-Bundesstaat Alabama fährt und der Erzähler aus der Gegenwart sagt: "Ich verstand vieles nicht von dem, was da passierte - vor allem, warum die Leute, wenn sie wütend sind, ihr eigenes Zeug kaputt machen."

Er fährt, und plötzlich sieht er, wie das Mädchen, in das er seit der ersten Klasse hoffnungslos verknallt ist, mit seinem besten Freund knutscht. Im Hintergrund ist die Bürgerrechtshymne "A Change Is Gonna Come" zu hören, dazu der Satz des Erzählers: "Und plötzlich machte die Wut, die ich in den Nachrichten sah, ein kleines bisschen mehr Sinn; vor allem, weil es sich so anfühlte, als würden sich einige Dinge niemals ändern." Er nimmt einen Stein und wirft ihn durch das Fenster seiner einstigen Grundschule - die nur für People of Color gewesen ist. Im Kleinen, im Intimen das Große, oft so schwer zu verstehende Ganze zu erklären, darin lagen bereits Kraft und Zauber des Originals.

Wunderbare Jahre ist die Neuauflage der auch in Deutschland überaus erfolgreichen Serie, in der ein Erwachsener von seinen Teenagerjahren im Amerika der 1960er- und 70er-Jahre erzählt. Das Original scheut sich ebenfalls nicht vor politisch-gesellschaftlichen Themen, in der ersten Folge gibt es etwa die Nachricht vom Tod des Nachbarsjungen - gefallen in Vietnam. Nur bekommt Protagonist Kevin (dargestellt von Fred Savage, der nun bei dieser ersten Folge Regie führte) den ersten Kuss von seiner Angebeteten Winnie, der kleinen Schwester des Gefallenen - einer der unvergesslichen Momente der TV-Geschichte. Darum geht es in Wunderbare Jahre: Diese magische Zeit zwischen zwölf Jahren und Schulabschluss, in der alle noch so bedeutsamen Dinge so unfassbar klein und unwichtig wirken gegen die eigene Welt um einen herum, in der innerhalb einer Woche so viel passiert, dass es für ein ganzes Leben reicht.

Über Vergangenheit sprechen heißt in den USA: über weiße Vergangenheit sprechen

Die Serie ist deshalb so unfassbar wichtig, weil sie ein Sujet behandelt, über das gerade heftig debattiert wird in den USA. Wenn über Vergangenheit gesprochen wird, vor allem die amerikanische, wird in Schulklassen häufig der weiße Blickwinkel gelehrt - auch und gerade bei Themen wie Sklaverei und Rassismus. Es gibt die Bewegung "Critical Race Theory", die - sehr vereinfacht ausgedrückt - fordert, beispielweise bei der Aufarbeitung der Historie andere Blickwinkel zuzulassen und diese etwa auch im Schulunterricht zu lehren. Dagegen protestieren vor allem diejenigen, die bei der Präsidentschaftswahl für Donald Trump gestimmt haben und 2024 wieder stimmen wollen. In der Popkultur führt das zur Debatte, die auch bei der Emmy-Verleihung mal wieder geführt wurde: zu wenige Preise für People of Color.

Vielleicht muss man diese Debatte eher so führen: Das Sujet des Originals - aus späterer Perspektive geschichtliche Ereignisse in eine intime Geschichte einzuweben - ist ja auch Vorbild für den Film Forrest Gump, die gleichnamige Hauptfigur stammt, genau wie die Wunderbare-Jahre-Protagonisten, aus Alabama. Was, wenn Gump eine Person of Color gewesen wäre und der Regisseur ebenfalls? Hätten dann vielleicht, nur mal so ein Gedanke, Don Cheadle (der nun den Erzähler gibt) und Spike Lee die Oscars gewonnen, die Tom Hanks und Robert Zemeckis bekamen?

Hypothetische Frage, klar, aber: Damit People of Color oder auch Frauen Preise gewinnen, müssen sie erst mal die Chance kriegen, dass ihre Projekte realisiert werden, dass es Rollen für sie gibt, dass ihre Stimmen als Drehbuchautor(-inn)en gehört werden. Das scheint nun häufiger zu passieren, darin liegt die Veränderung, die es braucht. Doogie Howser, M.D. zum Beispiel, die Serie aus den frühen Neunzigern über einen hochbegabten (und freilich männlichen) Teenage-Doktor, wird ebenfalls neu aufgelegt. Hauptfigur der neuen Serie, auch in Deutschland auf Disney+ zu sehen: Doogie Kamealoha, dargestellt von Peyton Elizabeth Lee, deren Mutter Amerikanerin ist, der Vater stammt aus China.

Dean wird von einem schwarzen Mitschüler vermöbelt, weil er sich benehme wie ein Weißer

Wonder-Years-Showrunner Saladin Patterson, Afroamerikaner aus Alabama, hat bei der Neuauflage bewusst das gleiche Jahr wie beim Start der Originalserie (1968, nur ein paar Monate später) gewählt; es gelingt ihm, sowohl dem Vorbild gerecht zu werden als auch eine komplett neue Geschichte aus einer komplett neuen Perspektive zu erzählen: "Ich wollte es so unverwechselbar wie möglich machen. Es braucht diesen eigenen Blickwinkel, es soll so spezifisch wie nur möglich um eine schwarze Mittelklasse-Familie gehen."

All das ist immer verbunden mit Hinweisen auf die Gegenwart, als der Erzähler zum Beispiel sagt: "Eltern geben einem den 'Police Talk': wie man sich bei Begegnungen mit der Polizei verhält. Es gab eine Präsidentschaftswahl, die das Land gespalten hat, und eine Grippe, von der es hieß, sie würde eine Million Leute töten." Klingt wie heute, und das ist die Frage, die nicht nur diese Serie dem noch immer stark vernehmbaren Make-America-Great-Again-Geplärre der Trump-Anhänger stellen will: Für wen eigentlich war dieses ach so großartige Amerika von damals eigentlich so großartig? Klar, für weiße heterosexuelle Männer. Aber sonst?

Trailer zur Serie:

Wunderbare Jahre verzichtet auf eine Anklage, zumindest in dieser ersten Folge. Protagonist Dean wird in der Schule von einem schwarzen Mitschüler vermöbelt, weil er sich benehme wie ein Weißer. Es gibt Sachen, die er nicht kapiert, weil man sie nun mal nicht kapieren kann, wenn er etwa über seine weiße Lehrerin sagt: "Sie hat sich auffallend um schwarze Schüler gekümmert, in denen sie Potenzial sah - was irgendwie auch wieder rassistisch gewesen sein könnte. Ich weiß es nicht." Die Nachricht vom Tod Martin Luther Kings überbringt ein weißes Ehepaar, das ehrlich mitfühlt. Streit oder gar offenen Rassismus gibt es (noch) nicht.

Die erste Folge setzt den Ton einer Serie; es ist bereits zu erkennen, wohin die Geschichte gehen könnte: Deans Schwester ist bewaffnetes Mitglied der "Black Panthers" (im Original schließt sich die große Schwester den Hippie-Protesten gegen den Vietnamkrieg an); der Bruder ist Soldat in Vietnam. Der Vater, erfolgreicher Musiker, legt über die Furcht vor Rassismus und Polizeigewalt stets eine passiv-defensive Be-cool-Attitüde an den Tag, die Mutter setzt auf Verständigung.

Die Serie liefert - neben den wunderbaren Momenten über die Zeit des Heranwachsens, die jeder kennt, der sich daran erinnern kann, selbst mal jung gewesen zu sein - einen völlig neuen Blick auf diese für die amerikanische Geschichte so prägenden Jahre. Ein Blick, den gerade Weiße ganz dringend zumindest hin und wieder einnehmen sollten. Deshalb, noch einmal: Möge diese Serie alleine für die erste Episode viele Preise gewinnen - auch, weil es natürlich die Chance erhöhen würde, dass der US-Sender ABC möglichst viele weitere Folgen bestellen wird. Im Original geht es über 115 Episoden bis zum High-School-Abschluss.

Wunderbare Jahre, auf Disney+

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