Süddeutsche Zeitung

"Tatort"-Nachlese:So ein Stau hat auch seine guten Seiten

Lesezeit: 3 min

Zumindest, wenn ein gesuchter Mörder darin feststeckt. Und noch etwas lehrt dieser famose Stuttgarter "Tatort": Es gibt nichts Spannenderes, als Menschen beim Warten zuzuschauen.

Kolumne von Luise Checchin

Die Erkenntnis:

Da, wo scheinbar nichts passiert, passiert in Wahrheit alles. "Stau" spielt in großen Teilen im lahmgelegten Stuttgarter Abendverkehr. Es gibt keine Actionszenen, Stoßstange steht an Stoßstange, die Figuren tun wenig, sie warten vor allem. Trotzdem - nein, gerade deswegen - ist "Stau" ein sehr spannender und unterhaltsamer Tatort. Denn im Kleinen spielen sich bekanntlich die größten Dramen ab.

Darum geht es:

Ein 14-jähriges Mädchen liegt tot am Straßenrand. Ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht, vermuten die Kommissare Thorsten Lannert und Sebastian Bootz. Die Hoffnung: Der Täter kann nicht weit gekommen sein, denn die einzige Straße, die vom Tatort wegführt, ist wegen eines Wasserrohrbruchs gesperrt. Problem Nummer eins: Den Ermittlern bleibt nur eine Stunde, um die im Stau stehenden Autofahrer zu befragen, dann soll die Sperrung aufgehoben werden. Problem Nummer zwei: Genervte Menschen im Feierabendverkehr sind nicht gerade die kooperativsten Gesprächspartner.

Bester Dialog:

Weil der junge Vater Moritz Plettner die Kommissare zunächst hinsichtlich seiner Fahrroute belogen hat, wird er als Täter verdächtigt. Doch dann stellt sich heraus, dass Plettner nur gelogen hat, um seine Affäre zu vertuschen. Für Kommissar Lannert ist die Sache damit allerdings noch nicht erledigt:

Kommissar Thorsten Lannert: Was ich nur nicht begreife, ist: Sie holen Ihren Sohn vom Kindergarten ab und fahren dann mit Ihrem Sohn zu Ihrer Affäre. Ist das nicht ekelhaft? Wie lange wollen Sie das denn noch machen? Spätestens in einem Jahr kann er das seiner Mutter brühwarm weitererzählen.

Moritz Plettner: Verdammt noch mal! Ja, wie soll man das denn sonst machen? Man hat doch eh nie Zeit für irgendwas. Tagsüber ist Arbeit und abends Familie. Angeblich geht jeder Dritte oder so fremd. Wie machen die das denn?

Top I:

Warum ist "Stau" so ein außergewöhnlich guter Tatort? Zum einen, weil der Kriminalfall hier gar nicht so wichtig ist. Aber anders als sonst, wenn der Kriminalfall nicht so wichtig ist, steht auch nicht das Privatleben der Kommissare im Mittelpunkt. Stattdessen geht es um viele kleine Geschichten. Da sind zum Beispiel die Eheleute auf dem Weg zur Paartherapie, die nun im Auto genauso gefangen sind wie in ihrer Beziehung. Da ist der frustrierte Angestellte, der nach der Arbeit noch unbezahlt etwas für seinen Chef erledigen muss. Da ist der Fahrer, der von der Geschäftsfrau, die er chauffiert, ohne Unterlass runtergeputzt wird. Dietrich Brüggemann hat bei "Stau" das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Er wiederholt hier, was ihm schon 2012 bei seiner Komödie "3 Zimmer Küche Bad" über acht Freunde und ihre Wohn- und Liebesprobleme sehr gut gelungen ist: Er seziert Beziehungen, erzählt davon, wie sie entstehen, davon wie sie sich auflösen und vor allem, was dazwischen passiert.

Top II:

"Stau" besteht zwar aus vielen Erzählsträngen, aber jeder einzelne davon fügt sich organisch ins große Ganze ein. Und dieses große Ganze ist vor allem eines: spannend. Grund dafür ist eine sehr kluge Dramaturgie. Für den größten Teil des Films ist die Handlung auf nur zwei Orte beschränkt: den Tatort, an dem Kommissar Bootz Hinweise zum Tathergang sammelt, und den Stau, wo Kommissar Lannert nach dem Täter sucht. Aber der Film ist nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich verdichtet. Als Kommissar Lannert am Stau eintrifft, hat er etwa eine Stunde, bevor der Verkehr wieder fließen wird - genau so lange also, wie die verbleibende Dauer dieses Tatorts.

Bester Auftritt:

"Stau" ist ein Ensemblefilm, niemand hat hier seinen großen Auftritt, aber jeder kleine Auftritt ist für sich gelungen. Julia Heinemann und Eckhard Greiner etwa spielen das passiv-aggressive Ehepaar so nervig und deprimierend, dass man am liebsten wegschauen möchte. Daniel Nocke lässt den frustrierten Angestellten überzeugend von der grauen Maus zum Wutbürger mutieren. Und auch Sanam Afrashteh ist als mobbende Geschäftsfrau in ihrer Blasiertheit und Selbstbezogenheit ungemein unterhaltsam. "Stau" ist ein Film, der im besten Sinn ausbalanciert ist: Keine Figur nimmt zu viel Raum ein, aber jede macht Eindruck.

Die Pointe:

Der Stau soll aufgelöst werden und noch immer gibt es kein Ermittlungsergebnis. Kommissar Lannert beschließt also, sich auf sein Gefühl zu verlassen. Er redet der Person ins Gewissen, die er verdächtigt, die Fahrerflucht begangen zu haben - und liegt richtig. Ein Geständnis allerdings bekommt man nicht zu sehen. Als alle anderen Autos anfahren, bleibt die Schuldige einfach weinend in ihrem Wagen sitzen. Ein sehr lakonisches Ende, das gerade wegen seiner Beiläufigkeit so wirkungsvoll ist.

Die besten Zuschauerkommentare:

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3650245
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.