Süddeutsche Zeitung

"Polizeiruf 110" aus Rostock:Schaut ja keiner hin

Lesezeit: 2 min

Der erschütternde "Polizeiruf" zeigt eine Abgehängte als Täterin, mit der alle sympathisieren können. Und die Kommissare singen, aber auf gute Art.

Von Holger Gertz

Irgendwann sagt Sabine Brenner, die Titelheldin dieses Polizeirufs aus Rostock, zu den Ermittlern: "Ihr kuckt nicht hin." Und das ist, mit müder Stimme gesprochen, einer der Kernsätze dieser Episode, die schlicht "Sabine" heißt und die man lange nicht vergessen wird. Schon weil Luise Heyer diese Frau so gut spielt, dass es einem den Atem nimmt.

Sabine ist eine Abgehängte: Schweißerin gewesen auf der Werft, aber zuletzt nur noch Fachfrau für Systemgastronomie. Das heißt in ihrem Fall: Unterbezahlte Zeitarbeitskraft, die den Managern das Mineralwasser mit Zitronenschnitzen an den Konferenztisch trägt. Die runtergesparte Werft macht inzwischen sogar Gewinne, soll aber trotzdem abgewickelt werden, was von den Abwicklern mit reichlich Business-Blabla erläutert wird. "Noch jemand Getränkewünsche?", sagt dann Sabine Brenner, ihrer Stimme hört man nichts an, und ihren apathischen Blick sieht keiner: Schaut ja keiner hin.

"Deine sämtlichen Skills sind wirklich überragend", sagt der Jungmanagertyp

Dieser Polizeiruf von Stefan Schaller (Buch Florian Oeller) ist ein Film aus der Gegenwart, die harten Zeiten führen dazu, dass rationalisiert und zusammengestrichen wird, wo es nur geht. Kann man ja gerade gut machen, passiert ja überall. Kennt jeder aus seinem eigenen Arbeitsumfeld, oder wird jeder noch kennenlernen. Ein paar Gewinner und viele Verlierer. "Deine sämtlichen Skills sind wirklich überragend", sagt der Jungmanagertyp zu einer Kollegin. Während Sabine bald der Strom abgedreht wird, und wenn sie im Dunkeln sitzt, dann muss gar keiner mehr nach ihr schauen. Sabine kann nicht mehr. Aber statt Schluss zu machen, macht sie erst mal mit den Leben der anderen Schluss.

Den Niedergang eines zum Rächer werdenden Menschen fast dokumentarisch zu begleiten, das wagt sich selten ein Krimi am Sonntag. Im Tatort "Borowski und das Fest des Nordens" spielte vor ein paar Jahren Mišel Matičević so eine Figur, allerdings abstoßend brutal. Dieser Polizeiruf etabliert nun eine Täterin, mit der das Publikum empfinden kann, in ihrem Kampf gegen die großen Arschlöcher und gegen die kleinen, die einem auf der Parkbank gegenübersitzen und mit tiefster Verachtung in der Stimme rüberkotzen: "Können Sie so rauchen, dass der Gestank nicht direkt zu mir zieht?"

Ein tröstendes Gegengewicht in dieser sehenswerten Folge sind die Ermittler König (Anneke Kim Sarnau) und Bukow (Charly Hübner), die jetzt eine Beziehung führen, natürlich eine komplizierte. Und die sogar gemeinsam singen, was eigentlich immer ein Alarmsignal ist: Wenn Kommissare singen, sind sie satt. Aber weil König und Bukow "Halt dich an deiner Liebe fest" von den Scherben grölen, ist es okay.

Sabine Brenner hält nichts mehr. Sie wankt am Abgrund entlang, reißt alle mit und stürzt hinein. Ihr kleiner Sohn sagt: "Sie hat gehofft, dass ich es mal besser habe als sie, aber daraus wird nichts." Erschütternd.

Das Erste, Sonntag, 20.15 Uhr. (Wiederholung von März 2021)

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