Süddeutsche Zeitung

Netflix-Serie "The End of the F***ing World":Roadtrip mit Gepäck im Kopf

Lesezeit: 3 min

Von Nora Voit

Gibt es etwas Beschisseneres als den Tod? Ja, sagen die Mundwinkel von Alyssa, während ihre Mutter an ihrem Brautkleid herumzupft: die eigene Hochzeit mit einem Mann, der einen maximal langweilt. Und auch James wünscht sich in genau dieser Sekunde vermutlich, die Kugel, die sich bei seiner spektakulären Flucht vor der Polizei beim Staffelfinale in seine Gedärme gebohrt hatte, hätte ihn dahingerafft. Stattdessen kauert er jetzt, zwei Jahre später, ungeduscht in der Karre seines Vaters und spioniert seiner große Liebe nach - seinen Dad auf dem Beifahrersitz, zu Asche verbrannt in einer Urne, tot.

Das ist die Ausgangssituation, in der sich die mittlerweile volljährigen Antihelden der britischen Netflix-Serie The End of the F***ing World in der zweiten Staffel wieder begegnen. Lebendig, immerhin. Aber Wiedersehensfreude sieht anders aus. Denn zu penetrant poltert die Vergangenheit ins Gedächtnis. Bilder eines Roadtrips, der ein jugendlicher Befreiungsschlag hätte werden sollen und stattdessen mit einer gerade noch verhinderten Vergewaltigung, einem blutigen Mord, einer Flucht und einem Beinahe-Tod endete.

Seitdem hatte sich das Leben der beiden Außenseiter zumindest ein bisschen weiterbewegt. Nach dem Horrortrip, basierend auf der Vorlage einer Graphic Novel von Charles Forsman, jobbt Alyssa mittlerweile in einem Diner ihrer Tante irgendwo im tannigen Hinterland von Südengland und hielt es einen kurzen Moment lang für rebellisch, zu heiraten. James ist während seiner Rehabilitation vom tierquälenden Psychopathen zum rehäugigen, sehnsüchtigen Invaliden geworden (was seiner Figur eher etwas wegnimmt, als ihr etwas hinzuzufügen) und durch den Tod seines Vaters auch noch die einzige Bezugsperson verloren.

Ein Roadtrip zur Traumabewältigung

Man könnte es als ein Angebot zur Traumabewältigung sehen, dass Drehbuchautorin Charlie Covell, die schon für die überraschend erfolgreiche erste Staffel verantwortlich war, die beiden Soziopathen noch einmal durchbrennen lässt. Wieder rein in die dunklen Enden der verdammten Welt, wieder mit schwerem Gepäck in den Köpfen. Begleitet von Flashbacks und Sechzigerjahre-Ohrwürmern, die auch den Zusehenden pausenlos vorgeben, wie sie zu fühlen haben. Und als hätten Alyssa und James damit nicht genug zu tun, holen sie sich mit der Tramperin Bonnie auch noch eine verurteilte Mörderin auf den Autorücksitz.

Gemeinsam schleppt sich das demoralisierte Trio auf einen Roadtrip: die frisch vermählte Alyssa in ihrem Hochzeitskleid, James mit seinem toten Vater unterm Arm und Bonnie mit geladener Waffe im Rucksack.

Natürlich ist der Neuzugang nicht ohne Mission in diese Serie geschickt worden. Bonnie, die bedrückend gut von Naomi Ackie gespielt wird, will den Mord an ihrem Geliebten - einem Serienvergewaltiger - rächen. Warum das nicht irre, sondern konsequent ist, erklärt sich durch ihre Familiengeschichte. Als ungewolltes Kind einer tyrannischen Mutter lernte Bonnie, dass Bestrafung eine Form von Liebe ist. Kaum davon befreit, verliebte sie sich in den sadistischen Professor Clive Koch (Jonathan Aris) - der in der ersten Staffel nur durch ein Messer im Hals davon abgehalten wurde, auch Alyssa zu vergewaltigen.

Man ahnt es: Hier führt das Schicksal drei Häufchen Elend zusammen. Die Kugeln in Bonnies Revolver sind für Alyssa und James reserviert - und die beiden ahnen nichts davon.

Schreiend komisch, tieftraurig - und am Ende leider kitschig

Es liegt also wirklich nicht am Plot, dass man sich in diese Teenie-Groteske verlieben kann. Ihren Charme zieht sie aus der rotzigen Erzählung von genreuntypisch unverklärten Traumata (häusliche Gewalt, Missbrauch, Bedauern von Mutterschaft, Klassismus, Suizid, Depression, Tod der Eltern...) - mal schreiend komisch, mal tieftraurig, immer ein bisschen seltsam. Die Bilder der Regisseurinnen Lucy Forbes und Destiny Ekaragha führen dabei durch schrullige Mikrokosmen, irgendwo zwischen Twin Peaks und Fargo. Dass die Geschichte von Bonnie, Alyssa und James in nur knapp drei Stunden zu Ende erzählt wird (Charlie Covell verkündete schon vor der Premiere, dass es keine dritte Staffel geben wird), könnte man fast als Beleidigung auffassen.

Zweifellos ärgerlich ist dagegen die Tatsache, dass dem Netflix-Zuschauer anscheinend kein Ende ohne zumindest ein bisschen Happiness zugemutet wird. So tappt The End of the F***ing World am Schluss doch noch voll in die Kitschfalle, die sie bis dahin umgehen konnte.

Ausgerechnet das Finale, das in der ersten Staffel so kompromisslos wie unvorhersehbar war, trieft vor Kitsch und falscher Empathie. Einzelgänger dürfen keine Einzelgänger bleiben, Psychos keine Psychos und Opfer keine Opfer. Damit beugt sich diese Serie dem Diktat so ziemlich jeder anderen x-beliebigen Produktion, die nicht fortgesetzt wird. Und verrät sich selbst. Denn auch das Ende der Serie hätte die Tristesse verdient, die in den ersten Folgen etabliert wurde. Das Schlusswort hat Alyssa sogar selbst schon gesprochen: "Manchmal bin ich so müde", sagt sie, "dass ich meine Ränder nicht spüre. Es ist, als würde ich schmelzen."

The End of the F***ing World, bei Netflix*

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