Süddeutsche Zeitung

Hörspiel:Der Moment des Kontrollverlusts

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Christine Nagel verhandelt in ihrem Hörspiel Nutzen und Gefahr von künstlicher Intelligenz - und wirft die ganz großen Fragen auf.

Von Stefan Fischer

Als Hirngespinst lässt sich Roboterjournalismus nicht abtun. Es gibt ihn bereits, und er wird sich noch weitaus stärker verbreiten. In diese Zukunft denkt Christine Nagel mit ihrem experimentierfreudigen Hörspiel Siren_web_client.exe. Darin bedient sich eine Radiomoderatorin in einer Mischung aus Neugier und Überforderung einer künstlichen Intelligenz. Siren heißt dieser lernfähige Smart-Speaker - der Name dieser Technologie verweist auf die Sirenen der Antike und deren Gesänge, die imstande sind, Menschen zu vernichten.

Auf einer oberflächlichen Ebene betreibt das Hörspiel Medienkritik. Oder, präziser: Selbstkritik im eigenen Medium, dem Kulturradio. Zu Hannah Arendt und Theodor W. Adorno soll die von Paulina Bittner gespielte Journalistin Sendungen produzieren, ohne mit dem Werk der beiden sonderlich vertraut zu sein. Immer mehr Stoff in immer kürzerer Zeit muss ihre Generation im Job bewältigen. Der Vorgänger, soeben in die Rente verabschiedet, wird darüber schwermütig.

Siren soll helfen, und zwar nicht nur bei der Recherche und der Materialbeschaffung. Sie soll sich das Stimmprofil der Moderatorin anverwandeln, um als diese auftreten zu können. Christine Nagel, die ihr Stück auch selbst inszeniert hat, verwendet dafür tatsächlich eine künstliche Intelligenz. Am Beginn von Siren_web_client.exe spricht eine blecherne Stimme noch abgehackt und in simplen Satzkonstruktionen. Doch die KI lernt und ist in der zweiten Hälfte des Hörspiels tatsächlich ein adäquates Double der Hauptdarstellerin Paulina Bittner.

Natürlich steht auch hier die große Science-Fiction-Frage nach einem eigenen Willen von KI im Raum. Christine Nagel geht es jedoch um etwas anderes - den Moment des Kontrollverlusts. Um den Wert von Wissen und die Gefahr von Nichtwissen. Somit weist Siren_web_client.exe deutlich über sich selbst hinaus. In eine Zukunft des eigenen Mediums und der eigenen Kunstgattung.

Siren_web_client.exe, NDR Kultur, Mittwoch, 20 Uhr.

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