Süddeutsche Zeitung

Geschichte:Die Verlassenen

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Von Willi Winkler

Wenn die Menschheit sich heute für die Mondlandung vor einem halben Jahrhundert feiert, wird leicht der deutsche Beitrag vergessen: Es war Wernher von Brauns Raketentechnik, mit der die ersten Amerikaner im Sommer 1969 ins Meer der Stille flogen. Es war die gleiche Technik, mit der Braun einige Jahrzehnte zuvor die V 1 und V 2 auf London und Antwerpen schoss, die Tausende das Leben kostete. Gefertigt wurden diese sogenannten Vergeltungswaffen von Zwangsarbeitern im Konzentrationslager Mittelbau-Dora im Harz; auch von ihnen sind Tausende gestorben. Erst ein Luftangriff am 3. April 1945 auf die Stadt Nordhausen brachte die Produktion endgültig zum Erliegen.

Der Angriff rettete 18 Kindern das Leben, die sich kurz vor Kriegsende bereits auf dem Weg ins Konzentrationslager Buchenwald befanden. Ihr Bus musste umkehren und brachte sie wieder zurück nach Bad Sachsa, wohin sie mit zunächst 28 anderen verschleppt worden waren. Es handelte sich um die "Verräterkinder", Angehörige der Verschwörergruppe um den Grafen Stauffenberg, der am 20. Juli 1944 vergeblich versucht hatte, Adolf Hitler umzubringen. Die Kinder waren zwischen vier Wochen und fünfzehn Jahre alt und sollten nach dem Willen Heinrich Himmlers zu Nationalsozialisten herangezogen werden. Sie hießen nicht mehr Schulenburg und Lehndorff und Stauffenberg, sondern Schulze und Meister. Vor dem Haus, in das sie verschleppt worden waren, mussten sie jeden Tag vor einer riesigen Hakenkreuzfahne antreten und den Hitlergruß entbieten. Was ihre Väter getan hatten, erfuhren sie erst nach dem Krieg. Es gab genug Menschen, die sie als Kinder von Mördern betrachteten.

Vor dem Volksgerichtshof erwähnte Graf Schwerin von Schwanenfeld die "vielen Morde", die in Polen geschehen waren, worauf der Vorsitzende Roland Freisler theatralisch das Wort "Morde" wiederholte und den Angeklagten anherrschte: "Sie sind ja ein schäbiger Lump!" Schwerin wurde zusammen mit fünf weiteren Angeklagten in Plötzensee so qualvoll erhängt, dass sich der sogenannte Führer möglichst lang an den Filmaufnahmen weiden konnte. Sein Sohn erzählt, dass er in der Nacht vor seiner Entlassung diese Hinrichtung geträumt habe.

Michael Heuer hat für seinen Film "Hitlers Zorn - Die Kinder von Bad Sachsa" keine Kinder, sondern alte Menschen vor die Kamera geholt, die sich so gut daran erinnern, wie verlassen sie sich fühlten, dass sie noch immer in Tränen ausbrechen. Einer ist Pfarrer geworden, einer war Präsident der Johanniter. "Wir sind keine Mitläufer", sagt einer über sich und seine Geschwister. Ein anderer: "Ich versuche, ein widerborstiger Mitmensch zu sein."

Wernher von Braun war regelmäßig in den Harz gereist, um sich vom Fortgang der Raketenproduktion zu überzeugen. In Bad Sachsa verbrachte er noch Anfang April 1945 eine Woche. Die "Verräterkinder" wird er nicht wahrgenommen haben; er hatte es eilig, sich in den Süden abzusetzen, wo er sich den Amerikanern übergab, um weiter Raketen bauen zu können. Das Kinderheim ist heute ein Campingplatz, demnächst sollen dort Ferienhäuser entstehen.

"Hitlers Zorn. Die Kinder von Bad Sachsa" , Samstag, Phönix, 12 Uhr 30 und 21 Uhr 45.

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SZ vom 20.07.2019
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