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Filmporträt über Joan Didion:Allein das Schauspiel ihres Gesichts lohnt den Film

Lesezeit: 4 min

Joan Didion beschreibt die amerikanische Gesellschaft genauso präzise wie die Tiefschläge ihres eigenen Lebens. Nun widmet Netflix der Schriftstellerin eine Doku - die erste überhaupt.

Von Johanna Adorján

Sie ist dünn wie ein i, die Arme staken aus ihrem Körper wie die einer Gottesanbeterin. Wenn sie spricht, untermalt sie dies mit rätselhaften Handbewegungen, mal sieht es aus, als schleudere sie etwas von sich fort, mal ist es eher ein nachdenkliches Wischen in der Luft, nie scheint es zu dem, was sie gerade sagt zu passen. Aber Inhalt und Form ergeben bei Joan Didion ja oft eine überraschende Dissonanz. Spätestens seit ihrem Buch "Das Jahr des magischen Denkens" (2006), ist sie auch hierzulande einer großen Leserschaft bekannt. Darin beschreibt sie das erste Jahr nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, des Schriftstellers John Gregory Dunne, mit dem sie fast 40 Jahre verheiratet war, und sie geht an das Thema, ihre eigene Trauer, genau so heran wie zuvor an ihre Reportagen für den Esquire oder die New York Review of Books: direkt in den Abgrund sehend, ohne zu blinzeln.

Der Didion-Stil: präzise und so distanziert, dass es mitunter teilnahmslos wirkt oder wie unter einem Sedativ. Doch zwischen den kühl gesetzten Worten schimmert etwas Schwermütiges durch, und zwar nicht im Sinne einer süßen Melancholie, sondern schon eher harte, mitleidlose Depression: die Angst, vielleicht sogar Überzeugung, dass nichts einen Sinn hat, nichts etwas bedeutet. Nur an der Schreibmaschine habe sie Kontrolle, hat Joan Didion gesagt.

Nun gibt es einen Dokumentarfilm über sie, den ersten. Dass er zustande kam, ist dem Umstand zu verdanken, dass ihn ein Verwandter von ihr gemacht hat, ihr Neffe Griffin Dunne, der selbst überrascht war, dass sie einwilligte, denn sie ist berühmtermaßen eine öffentlichkeitsscheue Person. Die Mitte wird nicht halten, so der Titel des Films, ist auf Netflix zu sehen und erzählt Didions Leben chronologisch. Szenen, für die es kein Bildmaterial mit der Protagonistin gab, werden mit Beispiel-Filmaufnahmen aus den jeweiligen Jahrzehnten illustriert. Das ist manchmal verwirrend, weil man nicht weiß, ob die Leute, die gerade im Bild sind, Unbekannte sind oder noch eine Rolle spielen werden. Auch weiß man hier und da nicht, wer gerade spricht. Oft erzählt Dunne selbst, es kommen aber auch Freunde und Kollegen von Didion zu Wort, ohne dass immer gleich klar ist, wessen Stimme das gerade ist.

Didion hat nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Tochter überlebt und darüber geschrieben

Doch das meiste erfährt der Zuschauer ohnehin von der Hauptfigur selbst, und das ist ein großes Glück. 82 Jahre ist sie jetzt alt, eine ältere, eine alte Dame, die auf gespenstische Weise immer noch etwas von einem kleinen Mädchen hat. Allein das Schauspiel ihres Gesichts lohnt den Film. Sie sei verrückt nach den Doors gewesen, sagt sie einmal, als es darum geht, dass Jim Morrison in einem ihrer Essays vorkommt, dem wunderschönen, tieftraurigen "The White Album". Warum die Doors, will Dunne wissen. "Bad Boys", sagt Joan Didion da nur mit ausladender Handbewegung. Und noch während sie beinahe lacht, friert ihr Gesicht ein und ihre Augen nehmen einen entsetzlich traurigen Ausdruck an, den sie hält, während sie in eine Art Nichts vor sich starrt, als sehe sie in ein tiefes Loch, das sich direkt vor dem Sofa in ihrem Wohnzimmer befindet und das außer ihr niemand sehen kann.

Später geht es darum, dass ihr Mann ein begnadeter Gastgeber war. Bei ihrem Satz "Es war die größte Party, die wir je schmissen" drückt ihr Gesicht Furcht aus.

Oder dieser Moment, als es um ihren Text über die Hippie-Bewegung geht, die ihr kaputt und verloren vorkam, "Slouching Towards Bethlehem" (1968). Darin kommt ein fünfjähriges Mädchen vor, dessen Lippen weiß sind vom LSD. Wie sei das für sie gewesen, dieses Mädchen zu sehen?, fragt Dunne. Joan Didion überlegt etwas länger, während ihre Arme in der Luft herumgeistern, und so wie sie guckt, glaubt man, dass sie gleich sagen wird, das sei natürlich hart gewesen, das arme Kind. Doch plötzlich, als habe sie endlich das Passende gefunden, blitzen ihre Augen auf sie sagt: "Lass mich dir sagen, es war Gold. Wenn man schreibt, lebt man für solche Momente."

Joan Didion hat nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Tochter überlebt: Quintana Roo, als Baby adoptiert und nach dem mexikanischen Bundesstaat benannt, starb 2005, im Alter von nur 39 Jahren an den Folgen eines Sturzes, nachdem sie gerade erst von einer schweren Krankheit genesen war. Auch darüber hat Didion geschrieben, ("Blue Nights", 2011), und wie viel ihr das abverlangt hat, sich nach dem Tod ihres Mannes, der, wie sie sagt, ihr Schutz vor der Welt gewesen ist, auch noch dem nächsten Schicksalsschlag zu stellen, das erzählt der englische Theaterregisseur John Hare. 2008 brachte er "Das Jahr des magischen Denkens" in New York auf die Bühne, in der Hauptrolle Vanessa Redgrave. Im Grunde sei es ihm dabei weniger um das Stück gegangen, als vielmehr darum, Didion wieder aufzupäppeln, die damals nur noch 37 Kilogramm wog. Sie kam jeden Tag zu den Proben, und er stellte immer Sandwiches und Croissants für sie bereit und nötigte sie geradezu, diese auch zu essen: "Ich sagte immer zu ihr, ich esse nichts, bevor du nicht isst." John Hare wirkt noch immer ganz stolz, dass sie mitspielte.

In ihrer Familie habe es immer diese Hypothese gegeben, sagt Didion, dass eine Schlange einen nicht beiße, solange man sie ansehe. Man dürfe sie nicht aus den Augen lassen, dann passiere einem nichts. Und so stelle sie sich auch dem Schmerz: Sie wolle wissen, wo er sitzt. "Ich habe immer gefunden, dass Dinge ihren Schrecken verlieren, wenn ich sie ganz genau ansehe."

Viele Mädchen bewundern die glamouröse, junge Didion, haben aber nie etwas von ihr gelesen

Schreiben scheint für Didion ein Akt der Notwehr zu sein. Ihr Versuch, dem Leben einen Sinn abzutrotzen, dem Chaos eine Ordnung zu verleihen. Sie sei eine Perfektionistin, sagt jemand. Ihr graue vor Unordnung. Es gehe immer darum, sich zu erinnern, was sie ausmacht, sagt sie selbst. Als müsse sie sich an ihren eigenen Worten festhalten, um sich nicht aufzulösen.

Wer die glamouröse, junge Joan Didion sucht, die heute von so vielen Mädchen auf der ganzen Welt bewundert wird, die nur Fotos von ihr kennen (sie im langen Kleid neben der Corvette), aber noch nie etwas von ihr gelesen haben, wird auch diese im Film finden. So erfahren wir, dass sie damals immer recht lange schlief, dann mit riesiger Sonnenbrille in der Küche ihrer Villa in Hollywood erschien, sich schweigend eine eiskalte Cola aus dem Kühlschrank nahm und dazu salzige Mandeln aß.

Die beste Geschichte aber erzählt Didions Lektorin: Wann immer die große amerikanische Schriftstellerin Joan Didion an einem Manuskript nicht weiterkommt, steckt sie es in eine Plastiktüte und packt es ins Gefrierfach. Und wenn die Zeit reif ist, taut sie es wieder auf und arbeitet weiter.

Joan Didion: Die Mitte wird nicht halten , Netflix.

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SZ vom 02.11.2017
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