Süddeutsche Zeitung

Sendungen im Privatfernsehen:Ganz schön arm

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Von Willi Winkler

Bernd Gäbler hat schier Übermenschliches auf sich genommen: Er hat sich über den Jahreswechsel im Dezember und Januar sämtliche Folgen der täglichen RTL2-Serie Hartz und herzlich angesehen. Da er Medienwissenschaftler ist, musste er auch bei weiteren Doku-Serien wie Armes Deutschland - Stempeln oder abrackern?, Zahltag! Ein Koffer voller Chancen oder Trotz dem Leben vorbeischauen, alles bekannt unter dem Schimpfbegriff "Unterschichtfernsehen".

Der Befund, veröffentlicht als Arbeitspapier der Otto-Brenner-Stiftung, ist trostlos, aber keine Überraschung: "Vorgeführt wird ein Extremismus des Elends, gecastet werden krasse Charaktere, suggeriert wird aber: So sind sie, die 'Unterschichten'."

Gäbler hat, wie die Nachprüfung ergibt, sehr genau hingeschaut: Jede Folge beginnt, das hat sich seit der Hubschrauberfahrt auf die Schwarzwaldklinik eingebürgert, mit einem establishing shot, und gleichzeitig beginnt eine unsoziale Distanzierung. Unerlässlich dafür ist Bestätigung des Klischees: Die Benz-Baracken in Mannheim sind zwar ein sogenannter sozialer Brennpunkt, werden aber in Hartz und herzlich als "Kult" ausgegeben. Ein kultischer Ort sind sie allenfalls für RTL 2: In einer typischen Genreszene frisst eine junge Frau, während sie sich mit vollem Mund mit ihrer Mutter streitet, einen Hamburger, der Hund vor ihr hätte auch gern was davon, auf dem Tisch steht ein voller Aschenbecher, die Waschmaschine spült nicht, die Wohnung ist eng und dunkel. So sind sie doch, die Unterschichten.

Kult ist, was der Sender dazu erklärt, hier ist es die Armut. Bei Rainer Maria Rilke, der sich von reichen Gönnerinnen aushalten ließ, war sie "ein großer Glanz aus innen", RTL 2 ist kaum weniger schamlos und präsentiert Armut als beste, wenn auch bewusst glanzlose Nachmittagsunterhaltung. Unverzichtbar: hektische Lungenzüge, Körperschmuck, Schmutzwäsche, schlechte Zähne, Schlurfen. Kennt man.

Dennoch sind die RTL-Armen ein lustiges Völkchen; die Bewohner des Viertels verbindet nicht nur die Abhängigkeit vom Staat, sondern auch der Hass auf die Ämter. Es wird viel gestreichelt, umärmelt, geküsst, geweint. Armut schützt nicht vor Kitsch, aber ohne diesen Kitsch wäre die ganze hingebungsvoll vorgeführte Armut tatsächlich ein Problem, das in einem so reichen Land endlich gelöst werden müsste.

Bei Hartz und herzlich, benannt natürlich nach der Arbeitslosengeldregelung, die einst Peter Hartz im Auftrag Gerhard Schröders entwickelt hat, verknüpft eine scheineinfühlsame weibliche Erzählstimme die einzelnen Geschichten zu einem Epos, das weitere Problemviertel in Rostock, Bitterfeld, Salzgitter, Pirmasens und Brandenburg einbezieht. Die Mitwirkenden kennen sich, sie halten zusammen, sie haben, das kann gar nicht anders sein, "das Herz am rechten Fleck". Dummerweise sind sie eingesperrt in überfüllte Wohnungen, der Fernseher läuft, und niemand hat so viel Auslauf wie die Kamera, die unablässig um die Protagonisten herumspringt, sie von allen Seiten abtastet, gern auch direkt ins Gesicht geht, um dann wieder den Haufen schmutziger Wäsche zu zeigen, das Geschirr, die Flaschen, den Aschenbecher.

RTL 2 versteht als "Sozialdokumentation", was nichts Besseres ist als ein unendlich lang ausgespielter Elendsporno. Die Darsteller sind nicht bloß arbeitslos, sondern oft auch noch krank, sie wirken nicht bloß wenig artikuliert, sondern hilflos, sie beherrschen das Leben nicht, das sie spielen. Dafür erhalten sie eine Aufwandsentschädigung von hundert Euro pro Tag. Die Zuschauer können sich also freuen, dass die Hartzer doch ein bisschen arbeiten für die Transferleistungen, die sich die Mehrheitsgesellschaft vom Munde abspart.

Konstanze Beyer, die Chefredakteurin von RTL 2, hat auf Gäblers Studie erwartungsgemäß empört reagiert. Im Vorwurf, ihr Sender zeige einen "Menschenzoo", spürt sie nur "bildungsbürgerlichen Dünkel". Bitte, gern alles gegen Bildungsbürger, Goethe nannte seine Iphigenie selber "ganz verteufelt human", aber was RTL 2 statt eines soliden Dünkels bietet, ist pure Verachtung: Bildungsferne Menschen werden als ausdrucksschwach, aber großmäulig vorgeführt, sie ernähren sich falsch, sie rauchen und trinken zu viel, können nicht mit Geld umgehen, hoffnungslose Fälle.

Einer wie Elvis, 46, acht Kinder. In seiner Wohnung erhält er Besuch, ein seltener Kontakt zur Außenwelt, der eingeordnet werden muss. Im Keller ist noch Platz, der Mann wird in einer dunklen Ecke hinter der aufgehängten Wäsche untergebracht, immerhin steht dort ein Fernseher. In der Erzählweise der Scheinreportage wird das dünkelhaft kommentiert: "Für den Fachlageristen hat das Ehepaar im Keller eine gemütliche Ecke eingerichtet." Der Fachlagerist!

Die Menschen in Hartz und herzlich sind biografisch auf die Einblendung "Elvis, 46, arbeitslos" und die acht Kinder reduziert. Statt Elvis oder Chantal oder Nicole zu sein, spielen sie "Elvis, 46, acht Kinder", spielen sie das Klischee der Einmaligkeit, denn was erwartet man schließlich in diesen Problemvierteln: kinderreiche Familien, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, die berühmte Unterschicht, wie sie leibt und lebt. Die Fürsorge, welche die Mehrheitsgesellschaft vermissen lässt, übernimmt die RTL-Kamera, dennoch ist es für den Betrachter nichts anderes als Denunziation: zu viele Kinder, zu schlechte Kleidung, und dann wird auch noch zu viel geraucht und getrunken. So wird die Armut am Ende zum Vorwurf.

''Vorgeführt wird ein Extremismus des Elends, gecastet werden krasse Charaktere, suggeriert wird aber: So sind sie, die ''Unterschichten''.'' Arbeitspapier von Bernd Gäbler

Die Serien von RTL 2, behauptet Konstanze Beyer, würden den Blick auf "Schicksale" lenken, "die die meisten von uns nicht sehen wollen, oder von denen sie nicht wussten, dass es sie im reichen Deutschland gibt". Das klingt wie eine stramme Mischung aus der Gartenlaube-Schnulzistin Hedwig Courths-Mahler und dem strengen Bert Brecht, doch wer würde tatsächlich belehrt von diesen Sendungen, die darauf angelegt sind, dass sich die Zuschauerin und der Zuschauer am Elend anderer weidet?

Der voyeuristische Blick garantiert, dass alles so bleibt, wie es ist. Durch die Art der Erzählung, durch die teilnehmende Dauerbeobachtung wirkt Hartz und herzlich nur klaustrophobisch. Es fehlt jedes Verständnis für die Vorgeschichte der Protagonisten und jedes Interesse daran, ihnen aus ihrer Lage herauszuhelfen. Sie werden es niemals schaffen, lautet die Botschaft, sie sind ja Unterschicht. Zu mehr als dem tautologischen Niveau des Inspektor Bräsig in Fritz Reuters "Ut mine Stromtid" (1862) reicht deshalb die Schicksalsdramaturgie nicht: "Die große Armut in der Stadt kommt von der großen Powerteh her!"

Konstanze Beyer nennt es "direkt und ehrlich", wenn die Kamera das eingekaufte Personal fortlaufend denunziert, und behauptet im Ernst, sie stehe einem Medienunternehmen vor, das sich "seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist". Der Beweis, dass RTL 2 die Verantwortung für die Darsteller seiner Armuts-Epen übernimmt, müsste erst noch erbracht werden. Bernd Gäbler hat mit Jacqueline Paetzel gesprochen, die als "Jacky P." in Frauentausch und Armes Deutschland mitgewirkt hat und das heute als "schlimmste Fehlentscheidung meines Lebens" sieht.

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Quelle:
SZ vom 18.04.2020
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