Süddeutsche Zeitung

Hörspiel "Der große Gatsby":Menschen mit Sehnsüchten

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Oliver Sturm inszeniert F. Scott Fitzgeralds Gesellschaftsroman als lebenssattes, triebhaftes Hörspiel.

Von Stefan Fischer

Es ist beinahe wie beim Zwiebelschälen: Schicht für Schicht pflückt Nick Carraway beiseite - aber auf einen Kern stößt er nicht. Sein Nachbar Jay Gatsby bleibt ihm und auch dem Publikum dieser Geschichte ein Rätsel. Erst spät bekommt man immerhin ein paar Ideen davon, was diesen rätselhaften, schwer greifbaren Mann antreibt.

Bezeichnend ist der erste Abend, an dem Carraway zu Gast ist bei einer von Gatsbys fulminanten Partys in dessen großspurigem Anwesen auf Long Island, das Carraway von seinem eigenen bescheidenen Grundstück aus einsehen kann - als Partygänger aus voyeuristischer Ferne, wenn man so will, der er war, ehe er tatsächlich eingeladen worden ist. Der Gastgeber tritt als solcher gar nicht in Erscheinung, und die Art, wie Carraway ihn schließlich dann doch persönlich kennen lernt, ist ein wenig peinlich für den Gast.

Die Lebensgier der meisten Figuren ist weitaus größer als ihr Gefühl für Anstand.

Der große Gatsby, F. Scott Fitzgeralds bekanntester Roman, ist eine Geschichte des Glamours und der Blendung, der Gier und der Maßlosigkeit, der Naivität und Undankbarkeit - wenn man sich jene Personen besieht, die die Titelfigur umkreisen. Die Kunst dieser Geschichte und ihres Autors ist es, dass ihr Zentrum dabei so lange vage, scheinbar unbesetzt bleibt. Oliver Sturm hat sie nun für den NDR als Hörspiel in zwei jeweils knapp eineinhalbstündigen Teilen inszeniert, es ist die Produktion, mit der sich die langjährige Hörspieldramaturgin des Senders, Susanne Hoffmann, in den Ruhestand verabschiedet.

Sturm peitscht seine Inszenierung nicht durch alle Winkelzüge der Romanhandlung, sondern schält klugerweise das Wesentliche heraus: die Beschreibung von Sehnsüchten. Dabei lässt er sich die notwendige Zeit. Er inszeniert die Laszivität der Figuren, ihren Hang ins Vulgäre, Obszöne, ihre Lebensgier, die weitaus größer ist als ihr Gefühl für Anstand. Die Kompositionen von Sabine Worthmann sind, was Jazz ist: ein musikalischer Ausdruck des sexuellen Triebs.

Inmitten dieser Szenerie verlieren sich der biedere Nick Carraway, gespielt von Matthias Bundschuh, und der illustre Jay Gatsby, gespielt von Michael Rotschopf, die sich beide näher sind, als es auf den ersten Anhieb scheint. Denn beide Männer sind auf ihre jeweilige Weise tiefgründiger als der Rest der Bagage. In Nebenrollen sind Birgit Minichmayr und Peter Lohmeyer zu hören. Auch das ist dieses Hörspiel: die Ausschweifungen der Geschichte auch hörbar zu machen durch spielfreudige Schauspieler.

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