Süddeutsche Zeitung

Missbrauchsvorwürfe in der katholischen Kirche:Glauben heißt nicht wissen

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Von Matthias Drobinski und Benjamin Emonts

Mehr als zweieinhalb Millionen Menschen sahen am 5. März die Arte-Dokumentation Gottes missbrauchte Dienerinnen. Wie keine Sendung zuvor legte sie offen, wie weltweit Priester und Ordensmänner Nonnen sexuelle Gewalt antaten, wie die Taten vertuscht und die Frauen, so sie schwanger wurden, aus der Gemeinschaft geworfen oder zur Abtreibung gedrängt wurden. In der Mediathek des deutsch-französischen Kultursenders war der Film aber plötzlich nicht mehr zu finden. Einer der im Beitrag beschuldigten Priester, er gehört der päpstlich anerkannten Gemeinschaft "Das Werk" an, hat am 20. März beim Hamburger Landgericht eine einstweilige Verfügung gegen Arte erwirkt. Bis auf Weiteres darf der Sender den Film nicht mehr zeigen.

In der Medienwelt ist der Missbrauchsskandal inzwischen auch juristisch ein Thema, der beschuldigte Pfarrer und ein Mitbruder haben einstweilige Verfügungen auch gegen Berichte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und des Deutschlandradios erwirkt. Die Geschichte betrifft die Medien besonders, weil es um die Frage geht, wie man mit Beschuldigten umgeht, wenn sie nicht verurteilt worden sind, aber die andere Seite die Sympathie, die Glaubwürdigkeit und die besseren Argumente auf ihrer Seite zu haben scheint. Darüber hinaus ist es aber auch eine Geschichte über Macht und Gerechtigkeit in der katholischen Kirche.

Ihre Hauptperson ist Doris Wagner, eine ehemalige Nonne, die in der Arte-Dokumentation offen über den angeblichen Missbrauch spricht. Nach dem Abitur trat sie 2003 in den Orden "Das Werk" ein, der zu den konservativen neuen geistlichen Gemeinschaften gehört, gefördert von den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Acht Jahre später verließ sie den Orden - mittellos, isoliert und gehirngewaschen, geistlich wie körperlich missbraucht, so beschreibt sie es in ihrem 2014 erschienenen Buch " Nicht mehr ich". Ein Pater, 20 Jahre älter als sie, habe sie eines Tages auf ihrem Zimmer einfach ausgezogen und vergewaltigt, sie habe es, unfähig, sich zu wehren, über sich ergehen lassen, auch bei weiteren Taten. Ein anderer Pater, der dann ihr Beichtvater wurde, habe sie während des Beichtgesprächs verbal bedrängt ("Ich mag Sie doch auch"). Als sie habe gehen wollen, habe er sie festgehalten und zu küssen versucht. Was die Vorwürfe kirchenpolitisch brisant macht: Der beschuldigte Beichtvater arbeitete als Abteilungsleiter in der vatikanischen Glaubenskongregation, in jener Behörde, die für weltweit alle Fälle zuständig ist, in denen Priestern Missbrauch vorgeworfen wird.

Der Vatikan reagierte erst, als Wagner im Jahr 2012 kirchenrechtliche Klage wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung und des Übergriffs in der Beichte eingereicht hatte. Während der Pater, dem Wagner Vergewaltigung vorwirft, 2012 seinen Posten im Staatssekretariat verlor (aber heute noch in der Seelsorge des Ordens arbeitet), dauerte es bei dem Beichtvater und Mitarbeiter der Glaubenskongregation bis zum Februar dieses Jahres, ehe er seinen Posten aufgab, "um weiteren Schaden von der Glaubenskongregation und von seiner Gemeinschaft abzuwenden", wie er erklärte.

Beide Patres aber beharren bis heute darauf, in strafrechtlichem Sinne unschuldig zu sein: Der Sex sei einvernehmlich gewesen, sagt der eine Pater. Und der andere hat gerade erst wieder gegenüber der theologischen Fachzeitschrift Herder-Korrespondenz erklärt, er habe im Beichtgespräch "nur in empathischer und mitfühlender Weise, jedoch immer in der Sie-Form, meine Wertschätzung für sie zum Ausdruck gebracht".

Aussage steht gegen Aussage, harte Beweise fehlen, es geht um eine erwachsene Frau, nicht um Minderjährige - und auch wenn Doris Wagner detailliert und in nachvollziehbarer Argumentation ihre Geschichte erzählt, so ist es ihr vor weltlichen Gerichten nicht gelungen, eine Strafe gegen die beiden Patres zu erwirken. 2012 erstattete Wagner zunächst Anzeige wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung bei der Staatsanwaltschaft in Erfurt, dort sei sie umfangreich verhört worden, teilt ein Sprecher der Süddeutschen Zei tung mit. Die Schilderungen aber hätten nicht für eine Anklage gereicht, zudem sei man nicht zuständig gewesen, da der Beschuldigte Österreicher sei und die angebliche Tat in Italien stattgefunden habe. Die Staatsanwaltschaft im österreichischen Feldkirch, an die sich Doris Wagner daraufhin wandte, sah nach ersten Ermittlungen ebenfalls keinen hinreichenden Tatverdacht und erhob keine Anklage.

Die Beschuldigten gehen juristisch gegen Medien vor, von denen sie sich unfair behandelt sehen

Und so ist seit Ende 2018 eine mediale Auseinandersetzung über die Frage entstanden, was vor zehn Jahren wirklich im "Werk" geschah. Die großen Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunkanstalten zitieren Doris Wagner als Betroffene der Gewalt und glaubwürdige Analytikerin klerikaler Strukturen, die sexuellen Missbrauch und seine Vertuschung begünstigen. Konservativ-katholische Publikationen hingegen legen ihren Fokus auf die Positionen der beiden Patres und deren juristische Erfolge. Die Tagespost führte in einem Bericht an, dass Wagner in ihrem ersten Buch nicht erwähnt habe, ein sexuelles Verhältnis zu einem anderen Ordensbruder gehabt zu haben, mit dem sie heute verheiratet ist; sie heißt seitdem Reisinger. Die konservativ-katholische Wochenzeitung Tagespost nannte den Namen des beschuldigten Beichtvaters aus der Glaubenskongregation: Pater Hermann Geißler. Bedenken, die Identität eines möglichen Straftäters preiszugeben, hatte man bei der Zeitung offenbar nicht.

Zugleich gehen Geißler und sein Mitbruder seit Januar juristisch gegen Medien vor, von denen sie sich unfair behandelt sehen - die einstweiligen Verfügungen gegen FAZ, Deutschlandradio und Arte befinden sich in laufenden Verfahren. Man sei entschlossen, "in anschließenden Klageverfahren Beweisaufnahmen über unwahre Vorwürfe der Frau Reisinger zu erzwingen", heißt es in einer Stellungnahme der Gemeinschaft "Das Werk". Bei der FAZ wollte eine Sprecherin das laufende Verfahren nicht kommentieren, beim Deutschlandradio hieß es, das Gericht habe nicht feststellen können, "ob die Gegner oder wir die Sache zutreffend schildern"; in diesem Fall unterliege "beim Unterlassungsanspruch in aller Regel das Medienunternehmen". Man wolle gegen die Verfügung Einspruch einlegen.

Einen weiteren Erfolg konnte Pater Geißler in der vergangenen Woche feiern: Die Apostolische Signatur, der oberste Gerichtshof der Römischen Kurie, sprach ihn frei; eine "Straftat zur Verführung zur Übertretung des sechsten Gebots steht nicht fest", zitiert die Herder-Korrespondenz aus dem auf Lateinisch verfassten Bescheid des Gerichts vom 15. Mai. Die Untersuchung war im Januar eingeleitet worden, offenbar auch als Reaktion auf das von Papst Franziskus versprochene verschärfte Vorgehen bei Missbrauchsfällen; ursprünglich hatte der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, lediglich das "unkluge Verhalten" des Paters gerügt und ihn auf seinem Posten belassen. Er sei sehr erleichtert, sagte Pater Geißler nach dem Bescheid dem Internetportal kath.net, "dass dieses Damoklesschwert nun nicht mehr über meinem Kopf schwebt".

Der Spruch der Apostolischen Signatur mutet allerdings wie ein Freispruch zweiter Klasse an: Eine Straftat konnte nicht bewiesen werden, das Urteil ergeht zu Gunsten des Beschuldigten. Zudem gibt es am Verfahren insgesamt Zweifel: Sie sei überhaupt nicht angehört worden, sagt Doris Wagner gegenüber der Süddeutschen Zeitung; ein nach einigem Hin und Her vereinbarter Termin am Karsamstag im Kirchengericht in Mainz sei kurzfristig abgesagt worden. So sei nur ihre drei Seiten umfassende Stellungnahme in die Urteilsfindung eingeflossen, zudem der Bericht einer anderen ehemaligen Nonne, die sich ebenfalls von Pater Geißler bedrängt sah - "ich war ja nicht die einzige", sagt Wagner. Das Urteil liege ihr, anders als offenbar Pater Geißler, bislang nicht vor. "2012 habe ich mich beim Kirchengericht gemeldet, jahrelang geschah nichts, jetzt wird die Sache auf einmal durchgepeitscht", sagt sie. Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller hat den Spruch der Apostolischen Signatur ein "Skandal-Urteil" genannt - gerade bei vermeintlichen Sexualstraftaten sei es das Wichtigste, beide Seiten anzuhören.

Für den Vatikan ist die Akte Doris Wagner damit geschlossen; die Debatte aber wird weitergehen. Gegen das Buch "Nicht mehr ich", die Quelle aller Vorwürfe, wollen die beiden Patres zunächst nicht juristisch ankämpfen. "Gegen eine ehemalige Mitschwester gerichtlich vorzugehen, da zögern wir auch aus menschlich-christlichen Gründen", sagt Georg Gantioler, der Sprecher vom "Werk".

Journalisten, die über den Fall schreiben, dürften indes gut daran tun, beide Seiten zu zitieren. Ihr sei es ohnehin viel wichtiger, über den geistlichen Missbrauch zu reden, der ihr in den Jahren im "Werk" widerfahren sei, sagt Doris Wagner. Innerhalb der katholischen Kirche gibt es inzwischen Menschen, von denen sie sich verstanden fühlt. Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn, der im Februar mit ihr im Bayerischen Rundfunk eine Dreiviertelstunde lang redete, sagte: "Ich glaube Ihnen."

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Quelle:
SZ vom 27.05.2019
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